„Speisen sind wie ein kulturelles Gedächtnis“

Kulturwissenschaften. Die Schnelllebigeit der Zeit lässt heute kaum mehr gemeinsames Essen zu. Früher wurden dabei in Familien neben Inhalten auch soziale Regeln weitergegeben, sagt der Historiker Moritz Czáky.

Die Presse: Was verbindet Kulinarik und Kultur?

Moritz Czáky: Kultur ist für mich nicht etwas, was man einfach besitzt und festhalten kann, also nicht nur die repräsentative Kultur. Sie ist nichts Festes, sondern dynamisch und verändert sich ständig. Speisen sind insofern auch ein Teil unserer Gedächtnis- und Erinnerungskultur.

 

Das bedeutet?

Wenn man nicht isst, geht man zugrunde. Daraus folgt, dass man immer wieder ans Essen denkt. Man erinnert sich an gute oder schlechte Speisen, freut sich darauf. Die Speisen sind wie ein Gedächtnisort. Und Erinnerung ist eine Konstante für Identität. Essen und Speisen werden daher auch immer wieder vereinnahmt für die Konstruktion von kollektiven Identitäten.

 

Ein Beispiel?

Ende des 18. und im 19. Jahrhundert entstehen überall in Europa Nationalgerichte. Zwar gab es vorher unterschiedliche Gerichte in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten, sie wurden aber nicht so genannt. Erst mit der Konstruktion der Nation wird Speise ein wichtiger kollektiver Identifikator. Man erinnert sich auch an Kriege, traumatische Erlebnisse, etwa den Holocaust. Aber man kann eine Erinnerungskultur auch an Speisen verdeutlichen.

 

Das stand aber lang nicht im Fokus der Kulturwissenschaften.

Das ist ein Aspekt, der eher unterschwellig da war.

 

Welche Rolle spielt Essen aus soziologischer Perspektive?

Das ritualisierte Essen war laut dem Soziologen Georg Simmel der Ort, an dem das kulturelle Gedächtnis der nächsten Generation weitergegeben wurde. Das betrifft einen sozialen Kontext, der heute weitgehend nicht mehr Bestand hat, aber geschichtlich gesehen von Bedeutung ist: Das gemeinsame Essen der Familie war der Ort, an dem Inhalte und soziale Regeln vermittelt wurden.

 

Das ist also verloren gegangen?

Das ist heute weniger von Belang. Die Schnelllebigkeit der Zeit lässt es kaum mehr zu, dass eine Familie regelmäßig zusammen isst. Heute gibt es freilich andere Formen wie Fast Food, wo sich die jungen Leute treffen und besprechen.

 

Kulinarik bietet also auch Raum für Kommunikation?

Ja, das wird unter anderem mit der biblischen Überlieferung des Abendmahls verdeutlicht, bei dem ja die wesentlichsten religiösen Inhalte einer Gemeinschaft vermittelt wurden.

Welche Rolle spielt die Zubereitung der Speisen?

Auch daran kann man kulturelle Prozesse verdeutlichen. Ein und dieselbe Speise wird von unterschiedlichen Köchinnen und Köchen zubereitet und schmeckt immer irgendwie anders. Essen unterscheidet sich über Regionen und Nationen hinweg. Historisch lässt sich das etwa an den verschiedenen Koch- und Essgewohnheiten der zentraleuropäischen Region verdeutlichen, wo Speisen unterschiedlich zubereitet, übernommen und verändert werden.

 

Regionen sind also wichtiger als Staaten, weil Speisen keine Grenzen kennen?

Viel wichtiger. Eine kulturwissenschaftliche Perspektive richtet sich etwa gegen das Konzept der Nationalkultur, das vorgibt, man könnte sich anderen abkapseln. Diese Vorstellung wird auch durch Speisen widerlegt: Speisen sind prinzipiell transnational. (gral)

Buchtipp: Moritz Czáky, Georg-Christian Lack (Hg.), „Kulinarik und Kultur“, Böhlau 2014.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)


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