Wer ist Charlie? Ein Zombiekatholik, Rassist?

Woman holds a placard during a vigil to pay tribute to the victims of a shooting by gunmen at the offices of weekly satirical magazine Charlie Hebdo in Paris, at Trafalgar Square in London
Woman holds a placard during a vigil to pay tribute to the victims of a shooting by gunmen at the offices of weekly satirical magazine Charlie Hebdo in Paris, at Trafalgar Square in London(c) REUTERS
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„Charlie Hebdo“. War die Bewegung „Ich bin Charlie“ ein von linken Zombiekatholiken wie François Hollande angeführter Betrug, wie ein Historiker behauptet? In den USA wird den Zeichnern sogar Rassismus vorgeworfen.

Wie viele Tage werden sie warten, bis sie auf den Geist des 11. Jänner schießen?“, fragt die französische Journalistin Caroline Fourest in ihrem soeben erschienenen Buch, „Éloge du blasphème“. Die Antwort ist schon da; vier Monate nachdem in Frankreich fast vier Millionen Menschen aus Solidarität mit den ermordeten Mitarbeitern von „Charlie Hebdo“ auf die Straße gegangen sind, wird tatsächlich mit Worten scharf geschossen, aus Frankreich wie aus Amerika, auf die Demonstranten von damals und auf die Zeichner des Satiremagazins, die lebenden und die toten.

Im französischen Verlag Éditions du Seuil ist am Donnerstag das Buch „Qui est Charlie?“ („Wer ist Charlie?“) erschienen. Der bekannt provokante Autor Emmanuel Todd erstellt darin eine Geografie des 11.Jänner. Auf Karten und Statistiken sieht man die Regionen des Landes, in denen am meisten Menschen demonstriert haben. Und mithilfe von Daten des Insee, des nationalen Statistik- und Wirtschaftsforschungsinstituts, rekonstruiert Todd den durchschnittlichen „Ich bin Charlie“-Demonstranten. Ein origineller Ansatz.

Die Demonstranten kämen vor allem aus der höheren Mittelschicht und hätten beruflich eher hohe Positionen, schreibt Todd. Und noch eine Beobachtung: Jene Regionen, in denen am 11.Jänner am meisten Menschen demonstrierten, seien genau jene, die historisch am meisten vom Katholizismus geprägt seien. Es sind die Bretagne, die im Südosten gelegene Region Rhône-Alpes und die großteils den Ballungsraum Paris umfassende Île-de-France.

„Charlie“ sei für die Ungleichheit

Aus diesem Faktum schließt der 63-jährige studierte Anthropologe und Historiker erstaunlich viel. „Der 11.Jänner war ein Betrug“, erklärt er. Der Prototyp der Demonstranten, die sich mit dem Slogan „Ich bin Charlie“ outeten, sei der des bürgerlichen, linken „Zombiekatholiken“. Dieser „Charlie“ habe alte katholische Werte verinnerlicht – Todd nennt als solche Hierarchie, Gehorsam, Ungleichheit. Sein Glaube sei jedoch verschwunden, und die „existenzielle Leere“ fülle der männliche oder weibliche „Zombiekatholik“ durch die Konzentration auf einen Sündenbock: den Islam. Die Menschen hätten für Laizismus und Meinungsfreiheit demonstriert, in Wirklichkeit seien sie jedoch fremdenfeindlich und islamophob. Deswegen seien die Demonstranten von Jänner „imposteurs“, Betrüger.

Und der Oberbetrüger? Das ist François Hollande. Todd wird zur linken Mitte gezählt, er hat Jacques Chirac beraten und im Wahlkampf Hollande unterstützt; doch ihn sieht er nun als Inbegriff des „Zombiekatholiken“, er verkörpere eine unbewusst fremdenfeindliche Linke, die damit den Aufstieg des Front National unter Marine Le Pen fördere.

Wenn Todd die „mit gutem Gewissen vollgestopfte Mittelklasse“ anklagt, „die durch ihren Egoismus und ihre Verachtung die Fäulnis auf dem Boden der Gesellschaft zulässt“, könnte etwas dran sein. Aber seine plakative „Zombiekatholizismus“-Theorie, die schon vor Erscheinen des Buchs Kontroversen ausgelöst hat, hat grobe Mängel. Todd verlängert die alte katholische Prägung gewisser Gegenden in die Gegenwart, als müsste man nicht untersuchen, wie die dortigen Demonstranten wirklich ticken. Skurril: Im einzelnen Fall hätten diese anständig gewirkt, „waren sympathisch, sagten nichts Schreckliches“, gibt Todd sogar zu. Doch die Theorie ist offenbar wichtiger. Um zu sehen, wie viel davon stimmt, müssten aber weit bessere Daten her.

Die Demonstranten hätten „ihre Herrschaft und ihr Recht, auf die Religion der Schwachen zu spucken“, behauptet, schreibt Todd. Aber auch Muslime marschierten im Jänner mit. „Viele Menschen muslimischer Herkunft definieren sich nicht durch die Religion“, betont Geograf Jacques Lévy. „Es ist gefährlich, diese Menschen auf genau das festzulegen, was sie ablehnen: die Zwangsangehörigkeit zu einer Gruppe.“ Am schlimmsten wird es, wenn Todd meint, es sei weniger schlimm gewesen, die Leute von „Charlie Hebdo“ zu töten als „irgendwelche“ Juden; denn die Redaktion von „Charlie Hebdo“ sei ja „in einem Kampf engagiert“ gewesen.

PEN-Preis als rassistisches Narrativ

In welchem? US-Autoren warfen „Charlie Hebdo“ in den vergangenen Tagen gar Rassismus vor. Als der PEN-Club bekannt gab, den Preis für Mut zur Meinungsfreiheit heuer an „Charlie Hebdo“ zu verleihen, protestierte Francine Prose, diese Auszeichnung sei Teil eines „Narrativs – weiße Europäer werden in ihren Büros von muslimischen Extremisten ermordet“. Man unterstütze damit die imperialistischen Kriege im Nahen Osten, behauptete auch die Schriftstellerin Rachel Kushner. Noch mehr als bei Todd hat man den Eindruck, dass den Ereignissen in Frankreich ein fremdes (in diesem Fall speziell amerikanisches Anti-Bush-Narrativ) übergestülpt wurde. Statt dass man sich auf die Fakten besinnt– wie die zwölf Toten vom 7.Jänner, die sterben mussten, da sie ihre Meinung sagten.

Der Säkularismus sei keine kulturelle Eigenart der Franzosen, „wie stinkiger Käse und schwabbelige Präsidenten“, sagte der Chefredakteur von „Charlie Hebdo“ bei der Preisverleihung ironisch. Man fühlt sich unverstanden, kulturelle Fremdheiten und Vorurteile prägen die Debatte. Amerikaner könnten mit der französischen Cartoon-Tradition nichts anfangen, meinte etwa der berühmte Cartoonist Art Spiegelman am Mittwoch. Zu freizügig, zu fleischlich seien die Zeichnungen, schreibt auch der in Frankreich lebende US-Autor Vladislav Davidzon: Die Amerikaner „verwechseln ihre altbackene Prüderie mit der Solidarität für die Unterdrückten“.

In der dieswöchigen Ausgabe kontert „Charlie Hebdo“ die amerikanischen Kritiker wie auch – klug und klar – das Buch „Wer ist Charlie?“. Todds Karten würden nicht irgendein weiterwirkendes Erbe beweisen, heißt es dort; sie zeigten ganz einfach „das reiche, integrierte und leider nun einmal weiße Frankreich... Dies spiegelt die soziale Kluft in der Gesellschaft wider, doch das heißt nicht, dass die Demonstranten diese Kluft rechtfertigen. Keiner hat sie verteidigt.“ Die Erwiderung an die US-Autoren fällt abschätziger aus: „Es ist schlimm, von Trotteln verurteilt zu werden, die einen nicht lesen.“ Auch „Charlie Hebdo“ ist wohl nicht gänzlich vorurteilsfrei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)

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