"Pufferstaat", "überwältigend": Pressestimmen zum Staatsvertrag

''Presse''-Titelblatt vom 15. Mai 1955
''Presse''-Titelblatt vom 15. Mai 1955(c) Presse Digital
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''Stunden überwältigenden Jubels'' erlebte Österreich, als am 15. Mai 1955 der Staatsvertrag unterzeichnet wurde. Die internationale Presse teilte die Freude der Bürger - sparte aber auch nicht mit Kritik.

Anlässlich der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages am 15. Mai 1955 „langte eine große Anzahl von an Bundespräsident Körner gerichteten telegrafischen Glückwünschen aus dem In- und Ausland ein“, teilte die Regierung mit. Die Wünsche reichten von „Depeschen des Königs Baudouin von Belgien, des Präsidenten von Island Asgeir Asgeirsson“ über Schreiben „der Großherzogin Charlotte von Luxemburg“ bis hin zum „Schweizer Bundespräsidenten Petitpierre“. Auch Zeitungen auf der ganzen Welt widmeten sich ausführlich diesem Ereignis:

''Die Zeit'' (Deutschland)
„Sobald aber die letzten Schönheitsfehler aus dem neuen Vertragstext im feinsten Einvernehmen mit Moskau überwunden sind, setzt sich die diplomatische Autokolonne in Bewegung, fährt die Prinz-Eugen-Straße hinauf zum Belvedere, Lustschloß des Savoyers, Befreiers von Türkengefahr, zur feierlichen Unterschrift in pompöser Umgebung – und dann findet das Fest zur Belohnung für die Vier im Schloß Schönbrunn statt, wo Maria-Theresia und Franz Joseph gewissermaßen höchstpersönlich empfangen.“

''The Telegraph'' (Großbritannien)
„Wenige Minuten nach der Unterzeichnung, steig der Jubel von 18.000 Österreichern von den Straßen außerhalb des historischen Belvedere-Platzes in Wien empor, wo die Zeremonie stattfand. Die große Glocke des 700 Jahre alten Stephansdoms trug die freudige Nachricht hinaus. Kirchen in ganz Österreich griffen den Ruf auf.“

''Combat'' (Frankreich)
„Durch den Vertrag mit Österreich ist nunmehr eine neutrale Zone, ein Pufferstaat zwischen den beiden feindlichen Blöcken geschaffen. Jetzt ist die Reihe an Jugoslawien.“

Blick auf den Balkon von Schloß Belvedere
Blick auf den Balkon von Schloß BelvedereAPA

Vor allem Kommentatoren der USA und der Sowjetunion verstanden es, sogleich die politische Dimension und die bedeutende Rolle ihrer Länder hervorzuheben:

''Washington Post'' (USA)
„Man kann zumindest behaupten, dass die USA und die Sowjetunion nach einer langen Periode des Kalten Krieges einen Weg einer leichteren Verständigungsbereitschaft einzuschlagen scheinen. Man kann noch nichts für gegeben hinnehmen, jedoch wird es sicherlich klug sein, jede Möglichkeit zu prüfen, die zu einem besseren gegenseitigen Verständnis führen könnte, wenn der österreichische Staatsvertrag sich als ein Schritt näher zum Frieden erweist, wird kein Land mehr darüber erfreut sein, als die USA".

''Prawda'' (Sowjetunion)
„Die Lösung des österreichischen Problems ist ein Erfolg für die Politik der Sowjetunion, die jeden Tag neue Maßnahmen ergreift, um eine internationale Entspannung herbeizuführen.“

Bundesgesetzblatt Nr. 152 vom 30. Juli 1955
Bundesgesetzblatt Nr. 152 vom 30. Juli 1955(c) Wikipedia

In Frankreich und Italien mischte sich Kritik in die Berichterstattung:

''Figaro'' (Frankreich)
„Als politische Geste entspricht die bevorstehende Reise Marschall Bulganins und Chruschtschews nach Belgrad in jeder Hinsicht dem sowjetischen Vorgehen, das zur Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages geführt hat. Und während in Wien die Festbeleuchtung erlischt und wir hören, dass Herr Molotow mit Vergnügen einer kommenden Ost-West-Konferenz auf höchster Ebene grundsätzlich zustimmt, wollen wir nicht übersehen, dass hinter den äußeren Zeichen der Entspannung Absichten stehen, vor denen die Nationen der freien Welt zu ihrem eigenen Besten auf der Hut sein sollten.“

''Corriere della Sera'' (Italien)
„Der Friedensvertrag mit Österreich, der in Wien unterzeichnet wurde, zehn Jahre nach der Kapitulation des 'Reiches', markiert eine Rückkehr zu der Situation entstanden in Saint Germain am 10. September 1919. Die anspruchslose Republik Österreich kann immer noch hinter unveränderten Grenzen gefunden werden, begehrt Frieden nach vierzig Jahren des Krieges und politischer Umbrüche.“

Wörgler Meilenstein
Wörgler Meilenstein(c) imago

''New York Times'' (USA)
„Ebenso, wie die letzten sowjetischen Friedens- und Abrüstungsvorschläge, wie sämtliche kürzlichen Schritte
der Sowjetunion, sind die Österreich als Gegenleistung für die österreichische Neutralität gemachten Zugeständnisse lediglich Teil eines größeren Programms, das von den Sowjets für die bevorstehende Großmächtekonferenz auf höchster Ebene vorbereitet wird, der sie zugestimmt haben. Dieses Programm berücksichtigt die offenkundige Tatsache, dass alle sowjetischen Drohungen die Durchführung der Pariser Verträge nicht verhindern konnten. Die Sowjets bemühen sich daher, ihre Drohungen mit freundlicheren Gesten zu ergänzen, die dazu bestimmt sind, die Welt einzuschläfern und sie glauben zu machen, dass die Sowjets plötzlich vernünftig und für versöhnliche Verhandlungen aufgeschlossen geworden sind, während sie in Wirklichkeit ihre unveränderlichen Ziele weiter verfolgen".

''Basler Nachrichten'' (Schweiz)
„Es ist kein Zweifel, dass die Formulierung des Staatsvertrages, nämlich die Übertragung des deutschen Eigentums in Sowjetbesitz und dessen Rückkauf laut Moskauer Abkommen durch Österreich, für Deutschland denkbar ungünstig ist. doch wenn Bonn behauptet, dieses deutsche Eigentum sei zu Unrecht an die Sowjets übergeben worden, dann hat es seine Ansprüche an die Mächte zu richten, die das Potsdamer Abkommen unterzeichnet haben, kaum aber an Österreich als gutgläubigen Erwerber dieser Werte.“

''Mittag'' (Deutschland)
„Mindestens sollte über eine Entschädigung verhandelt werden, denn auch die Österreicher sind an guten Beziehungen zu Deutschland interessiert. Man denke daran, dass demnächst die Reisezeit beginnt.“

Die "Presse" berichtete vom "überwältigenden Jubel", blickt aber auch bereits auf kommende Herausforderungen:

„Der große Tag ist vorüber, der Alltag meldet wieder seine Rechte an. Die Durchführung des Staatsvertrages wird vieles ändern. Regierung, Verwaltung und Wirtschaft stehen vor schwierigen Aufgaben. Hindernisse werden überwunden werden müssen. (…) Am Sonntag erlebte das österreichische Volk Stunden überwältigenden Jubels.“

(hell)

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