Beneš-Dekrete: Das Ende einer 800-jährigen deutschen Geschichte

Edvard Benes 1939 in Paris.
Edvard Benes 1939 in Paris. (c) Roger Viollet/Picturedesk.com
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Vor 70 Jahren schuf Edvard Beneš mit seiner neuen tschechoslowakischen Regierung die Rechtsgrundlage für die Enteignung und Vertreibung der deutschen und ungarischen Minderheit.

Ein paar wenige Sätze in einer live vom Fernsehen ausgestrahlten Debatte vor mehr als zwei Jahren hatten dem damaligen tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg den Weg in die Prager Burg verbaut. In einer Wahlkampfschlacht mit dem Linkspolitiker Miloš Zeman um das tschechische Präsidentenamt fragte der Moderator den konservativen Fürsten Schwarzenberg etwas scheinheilig, ob die Nachkriegsvertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nicht richtig gewesen sei. Schwarzenberg ließ sich provozieren und antwortete gewohnt deutlich und scharf: „Die Vertreibung war eine schwere Verletzung der Menschenrechte. An heutigen Maßstäben gemessen, würde sich die Regierung, einschließlich Präsident Beneš, wahrscheinlich in Den Haag befinden.“

Die tschechische Gesellschaft sei nach dem Krieg vom „Bazillus des Nazismus“ infiziert gewesen, sagte Schwarzenberg – eine Formulierung, die schon der erste Nachwende-Präsident Václav Havel verwendet hatte. Schwarzenberg hatte sich mit diesen Aussagen selbst einen Strick gedreht. Sein Widerpart Zeman gerierte sich als das klare Gegenstück zu Schwarzenberg und versicherte pathetisch, er werde – anders als sein Widersacher – immer die „nationalen tschechischen Interessen“ gegen jedwede Angriffe (der einst Vertriebenen) verteidigen. Zemans Wahlkampfteam setzte zudem falsche Hirngespinste in die Welt, die beweisen sollten, dass Schwarzenberg offen in seinem Wahlkampf von den Sudetendeutschen unterstützt werde.

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war eine ganzseitige Anzeige eines „Privatmannes“ in der Boulevardzeitung „Blesk“, in der vor der Wahl Schwarzenbergs gewarnt wurde. Unter ihm als Präsidenten müssten die Tschechen erneut um ihre Häuschen bangen. Schwarzenberg werde den Deutschen alles zurückgeben, was sie nach dem Krieg verloren hatten.

Ein Vierteljahrhundert nach der gesellschaftspolitischen Wende zog tatsächlich noch einmal die „deutsche Karte“ in einem Wahlkampf, was viele das Land gut kennende Beobachter für völlig ausgeschlossen gehalten hatten. Ob Schwarzenbergs massive, wenn auch kurze, Kritik an der Vertreibung und den Beneš-Dekreten die Wahl grundlegend entschieden hat, ist umstritten. Aber sie hat mit Sicherheit geholfen, dass der heutige Präsident Zeman heißt.

Grundpfeiler. Insgesamt gab es 143 „Dekrete des Präsidenten der Republik“, wie sie offiziell hießen, die zwischen 1940 und 1945 teilweise in London, dem Sitz der tschechoslowakischen Exilführung unter Edvard Beneš, später dann in Prag, herausgegeben wurden. In ihnen ist alles Mögliche festgelegt worden; im Kern ging es darum, Grundpfeiler für eine Rechtsordnung für die Nachkriegszeit zu haben. Die Tschechoslowakei existierte damals nicht mehr. Zunächst billigten die Westmächte 1938 in München Hitlers Wunsch, das Sudetenland von der Tschechoslowakei abzutrennen. Dort lebte der Großteil der deutschen Minderheit. Die Westmächte meinten, Hitler auf diese Weise beschwichtigen und einen Krieg hinauszögern zu können, auf den sie seinerzeit nicht vorbereitet waren. Diese „Appeasement“-Entscheidung fiel über den Kopf von Tschechen und Slowaken hinweg, es wurde „ohne uns über uns“ entschieden, wie es bis heute in Prag ebenso zurecht wie immer noch verbittert heißt.

Im März 1939 marschierte die Wehrmacht in der „Rest-Tschechei“ ein. Fortan nannte sich das Gebilde Protektorat Böhmen und Mähren, in dem die Nazis die Vernichtung eines großen Teils des Volkes vorgenommen hatten. Die Slowakei, seit 1918 Bestandteil des Staates, spaltete sich unter dem Druck Hitlers ab und wurde zum Vasallen Deutschlands.

Ziel der Dekrete war also die Erneuerung der Tschechoslowakei, ein Zurück bis vor dem Münchner Abkommen. Die Exilregierung in London ging davon aus, dass sämtliche Handlungen zwischen München 1938 bis zum 15. März 1939 Handlungen waren, die „allesamt verursacht (wurden) durch die gewalttätigen und drohenden Akte vor allem des Deutschen Reiches und schon aus diesem Grund für die Tschechoslowakische Republik völkerrechtlich ungültig und nicht verpflichtend“ gewesen seien.

Von Bedeutung für die Entrechtung und spätere Vertreibung der Deutschen aus der Nachkriegs-Tschechoslowakei sind nur wenige der 143 Dekrete. An deren Vorbereitung ging man jedoch schon 1942: Im November tagten erstmals Expertenkommissionen für die Ausarbeitung eines Dekrets über die „Bestrafung der Kriegsverbrecher, Verräter und Kollaborateure“. Wohin das alles führen sollte, äußerte Beneš im Oktober 1943 in einer Rundfunkrede: „In unserem Land wird das Ende dieses Krieges mit Blut geschrieben werden. Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben. Die ganze Nation wird sich an diesem Kampf beteiligen.“

"Tötet sie". Deutlicher noch drohte Beneš' Stabschef, General Sergěj Ingr: „Wenn unser Tag kommt, wird die ganze Nation dem alten Kriegsruf der Hussiten folgen: Schlagt sie, tötet sie, lasst niemanden am Leben!“ Klar war, wohin das führen sollte: die 800-jährige Geschichte der Deutschen in diesem Landstrich für immer zu beenden. Im April 1945 traf Beneš mit seiner designierten Regierung im damals schon befreiten ostslowakischen Kaschau ein. Beneš ernannte hier die erste Regierung der Nationalen Front. Diese verkündete zwei Tage später in Moskau das Kaschauer Regierungsprogramm, das die wichtigsten Prinzipien der künftigen Innen- und Außenpolitik beinhaltete. In Artikel 8 wurde das repressive Vorgehen gegenüber den Minderheiten, namentlich der deutschen und der ungarischen, angedroht.

Sie seien „zum großen Teil zu einem willigen Werkzeug der gegen die Republik gerichteten Politik von außen“ gewesen, „wobei sich insbesondere die tschechoslowakischen Deutschen geradezu zu einem Vernichtungsfeldzug gegen die tschechische und slowakische Nation hergaben“. In den Artikeln 10 und 11 wurde die Beschlagnahme des Besitzes der Bürger feindlicher Staaten vorgesehen, die sich schuldig gemacht hatten. Das zentrale „Enteignungsdekret“ war das Dekret Nummer 5 vom 19. Mai 1945. Es legte fest, dass sämtliche vermögensrechtlichen Rechtsgeschäfte – „ob sie mobilen oder immobilen, öffentlichen oder privaten Besitz betrafen, für ungültig (erklärt werden), falls diese nach dem 29. September 1938 unter dem Druck der Okkupation“ vorgenommen wurden.

Bemerkenswert ist bei all dem, dass nicht der Staat beweisen musste, wer „unzuverlässig“ war. Es galt eine umgekehrte Beweispflicht: Die Deutschen (und Ungarn) mussten nachweisen, dass sie sich seit dem Münchner Abkommen 1938 loyal zum tschechoslowakischen Staat verhalten hatten. Einige der Dekrete gelten bis heute, verhindern vor Gericht regelmäßig Restitutionsansprüche von Deutschen oder Österreichern. Neue Rechtsverhältnisse schaffen sie jedoch nicht mehr.

Tausende kamen in der ersten „wilden Phase“ um, landesweit gab es schlimme Exzesse. Nach dem Potsdamer Abkommen verlief der millionenfache Bevölkerungs-„Transfer“ „geregelt“. Der letzte Zug verließ am 29. Oktober 1946 tschechoslowakisches Gebiet bei Karlsbad. Ordentliche tschechische und slowakische Beamte hatten alles mit deutscher Gründlichkeit notiert: Bis zum 1. November 1946 wurden 2.170.598 Deutsche abgeschoben, in 1.646 Zügen, bestehend aus 67.748 Eisenbahnwaggons.

In seiner Weihnachtsansprache 1946 konnte Beneš stolz verkünden: „Das diesjährige Weihnachten bekommt eine besondere Bedeutung, einen eigenen Charakter auch dadurch, dass wir es in unserem Vaterland erstmals ohne Deutsche feiern. Mit dieser Tatsache wurde eines der großen Kapitel unserer Vergangenheit liquidiert.“

Fakten

143 „Dekrete des Präsidenten der Republik“ wurden zwischen 1940 und 1945 erlassen. Hinter den Beneš-Dekreten stand die tschechoslowakische Exil-Regierung in London. Für die Vertreibung und Enteignung der deutschen und ungarischen Minderheit war das Dekret Nr. 5 entscheidend. Im Artikel 8 wurde das repressive Vorgehen gegenüber den Minderheiten angedroht.

Das Münchner Abkommen, das im September 1938 von Großbritannien, Frankreich, Italien und dem Deutschen Reich unterzeichnet wurde, bedeutete im Prinzip das Ende der Tschechoslowakei. Adolf Hitler wurde die Zustimmung zur Eingliederung des Sudetenlandes erlaubt.

Das Kaschauer Programm war das Ergebnis der ersten Sitzung der tschechoslowakischen Regierung nach Kriegsende – im April 1945.

Anmerkung der Redaktion:

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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