Um das „Kalifat“ ins Wanken zu bringen, müssen die Sunnitenstämme gegen IS revoltieren. Doch sie sehen sich vor der Wahl zwischen Pest und Cholera.
Es sind erschreckende Bilder. In endlosen Kolonnen verlassen Zehntausende die Stadt Ramadi, versuchen, sich vor dem Terror der Jihadisten-Miliz Islamischer Staat und der bevorstehenden Schlacht in Sicherheit zu bringen. Doch vor den Toren Bagdads ist für Tausende die Flucht zu Ende. Sie müssen im Freien campieren, weil ihnen irakische Sicherheitskräfte den Weg über den Euphrat versperren. Die Regierung in Bagdad will verhindern, dass die Flüchtenden die Hauptstadt erreichen.
Die dramatischen Vorgänge rund um Ramadi spiegeln in geballter Form die Probleme des Irak im Kampf gegen das sogenannte IS-Kalifat wider. Eines davon ist die verzwickte Lage vieler Sunniten in dem mehrheitlich schiitischen Land. Iraks Regierungstruppen führen Sicherheitsgründe dafür ins Treffen, warum sie Flüchtlinge nicht nach Bagdad lassen wollen: Unter die Schutzsuchenden könnten sich IS-Attentäter mischen. De facto sind aber auch zahlreiche Frauen und Kinder von der Blockade betroffen. Dahinter steckt, dass die Menschen der Region um Ramadi gleichsam unter Generalverdacht stehen. Viele in Iraks Regierung sehen in ihnen potenzielle Feinde.
Ramadi ist die Hauptstadt der Provinz Anbar westlich von Bagdad. Anbar ist eine Hochburg sunnitischer Stämme, die sich seit dem Sturz des Diktators Saddam Hussein 2003 immer wieder gegen die neuen Herren in Bagdad erhoben haben. Die sunnitischen Stämme standen traditionell eher aufseiten Saddams. Sie waren deshalb nach 2003 vom Ausschluss seiner ehemaligen Parteigänger aus öffentlichen Ämtern stark betroffen. Dazu kamen Übergriffe der US-Truppen, die den Amerikanern die Todfeindschaft einiger dieser Stämme einbrachten. Anbar wurde in den 2000er-Jahren zu einem der Hotspots des Untergrundkrieges gegen die US-Truppen und die Regierung in Bagdad. Sunnitische Extremistengruppen wie der IS-Vorläufer al-Qaida im Irak fanden hier genau den richtigen Nährboden vor.
Um die Lage zu beruhigen, versuchte Washington, die sunnitischen Stämme an Bord zu holen. Es unterstützte die sogenannten „Erwachen“-Milizen: Für Ausrüstung und Sold zogen sunnitische Stammeskämpfer gegen die Extremistengruppen zu Felde – oder hörten einfach damit auf, auf die US-Soldaten zu schießen. Der Ansatz funktionierte. Doch nach dem Abzug der US-Kampftruppen Ende 2011 dachte der damalige Premier Nouri al-Maliki nicht daran, diese Politik fortzusetzen. Schließlich revoltierten die sunnitischen Stämme erneut gegen die schiitisch geprägte Regierung. Und erneut konnten sich in ihren Gebieten Extremisten breitmachen – diesmal der IS.
Mittlerweile sind die sunnitischen Stämme zwischen die Fronten geraten. Auch sie leiden zunehmend unter dem IS-Terror. Zugleich sehen sie sich aber nach wie vor bei der Machtverteilung im Irak benachteiligt. Und die Kriegssituation bringt für sie zusätzliche Sicherheitsrisken: Als Iraks Armee Ende März im Verbund mit schiitischen Milizen den IS aus Saddams Geburtsstadt Tikrit vertrieb, kam es zu schweren Übergriffen. Zahlreiche Häuser von Sunniten wurden geplündert und zerstört. Die Menschen in Ramadi – aber auch in der IS-Hochburg Mossul – sehen sich nun vor der Wahl zwischen Pest und Cholera. Was ist schlimmer: die Herrschaft des IS-Kalifats oder der Einfall der schiitischen Milizen? Das ist mit ein Grund dafür, warum der IS bisher so lang seine Dominanz in Teilen des Irak aufrechterhalten konnte.
Die Luftangriffe der US-geführten Allianz waren bisher nicht massiv genug, um den IS in Schwierigkeiten zu bringen. Und sie funktionieren nur dort, wo – so wie in Iraks und Syriens Kurdengebieten – zugleich entschlossene Kräfte auf dem Boden den Jihadisten gegenübertreten. Um das IS-Kalifat endlich ins Wanken zu bringen, müssen die Extremisten aus Mossul vertrieben werden. Dafür braucht es eine Offensive von außen, aber vor allem einen Aufstand von innen. Die Sunnitenstämme, die 2014 dem IS die Stadttore aufgemacht haben, müssen sich nun offen gegen die Jihadisten stellen. Ob sie sich davon überzeugen lassen, wird auch davon abhängen, wie sich Iraks Regierungstruppen bei Ramadi verhalten werden. Übergriffe wie in Tikrit dürfen dort nicht mehr passieren.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2015)