Eine furchtbar nette Familie

Lange war Maria Lazar vergessen, nun ist die heimische Autorin neu zu entdecken. In ihrem erstmals 1920 erschienenen Roman „Die Vergiftung“ kämpft ihre junge Heldin Ruth tapfer gegen ihre großbürgerliche Herkunft.

Merkwürdig“, so der Herausgeber, sei die fast durchgängige „Absenz“ der Schriftstellerin und Feuilletonistin Maria Lazar in den Autobiografien nachmals berühmter Männer wie Ernst Fischer, mit dem sie ihren Roman „Der Fall Rist“ dramatisierte, Elias Canetti, für den sie in ihrer Wohnung eine Lesung organisierte, oder all der anderen Herren, mit denen sie im Salon Eugenie Schwarzwalds verkehrte, wo Oskar Kokoschka 1916 ihr Porträt „Dame mit Papagei“ malte.

Merkwürdig ist das freilich nur mit der heutigen Optik. Hielte man sich an die Memoirenliteratur, müsste man prinzipiell davon ausgehen, dass Autorinnen wie Rosa Mayreder, Joe Lederer, Mela Hartwig oder Bertha Eckstein-Diener nicht gelebt haben. Bestanden keine erotischen oder verwandtschaftlichen Beziehungen, werden Frauen kaum erwähnt. Memoirenschreiber tendieren dazu, ihre Lebenswege imagemäßig nach oben zu verschieben, und dafür sind Frauen in patriarchalen Gesellschaften meist wenig geeignet. Kommt wie bei Maria Lazar noch die erzwungene Flucht ins dänische Exil hinzu – sie starb 1948 in Stockholm –, ergibt das häufig ein radikales literarhistorisches Vergessen.

Umso verdienstvoller ist Hans Sonnleitners Start zur Wiederentdeckung der 1895 in Wien geborenen Maria Lazar mit der Publikation ihres ersten Romans, „Die Vergiftung“. Erschienen ist er 1920 im E. P. Tal Verlag, und das war etwas zu spät. Denn die Welt der bürgerlichen Ringstraßenpalais, an der sich Lazar in diesem fünf Jahre zuvor geschriebenen Debüt mit großer Verve abarbeitete, war im Ersten Weltkrieg implodiert, und ein ganz neuer Typus Frau hatte inzwischen das Parkett betreten, dem Optionen außerhalb des familiären Settings zumindest bedingt offenstanden.

In 13 Erzählabschnitten schickt Lazar die 20-jährige Ruth durch einen Windmühlenkampf gegen ihr großbürgerliches Herkunftsmilieu, das die moralisch wie ökonomisch bröckelnden Fassaden der Wohlanständigkeit mit fester Hand und verlogener Doppelmoral zusammenhält. Die schräg angeschnittenen Porträts und Raumbilder machen wie in einem Zerrspiegel all das dingfest, was kunstvoll verborgen sein will, aber auch all das, was das individuelle Unglück jedes Einzelnen ausmacht.

Es ist kein kalter Blick, sondern immer wieder ein verstehender, der, auch in pubertärer Manier, hoch aufgeladen zwischen tiefstem Abscheu und wärmstem Mitleid changiert. Die realen Fakten der familiären Abgründe deutet Maria Lazar mehr an, sie sind eher typologisch zu verstehen. Die Mutter hatte ein Verhältnis mit dem Jugendfreund ihres mittlerweile verstorbenen Mannes. Dem Ehebruch fügt der damalige Liebhaber den ökonomischen Betrug hinzu, indem er die Erfindung des Vaters erfolgreich verwertet, was zum finanziellen Desaster der Familie beiträgt, und als dämonischer Verführer spukt er noch in Ruths Leben hinein.

Der Bruder hat die Kanzleikraft geschwängert, vor seiner bevorstehenden Verheiratung muss die Abtreibung finanziert werden – vermutlich sorgsam eingetragen in das Ausgabenbuch der Mutter. Und das ehrgeizige Eheprojekt der älteren Schwester ist gescheitert, als ruchbar wurde, dass der Reichtum der Familie auf schwachen Beinen steht. Sie alle sind Täter im Dienste der Konvention und zugleich ihre Opfer – und können in dieser Double-Bind-Situation kein Verständnis für Ruths radikales Anrennen gegen den so schwer erkämpften Schein aufbringen. Ruth wiederum fehlt ein Vorbild, auch Onkel Gustav, das zweite schwarze Schaf der Familie, ist keines. Er hat nicht rebelliert, sondern resigniert und stirbt als gescheiterter Künstler.

Beeindruckend ist die ungestüme Kraft, mit der Lazar die Szenarien aufbaut, zuspitzt und ins Groteske kippen lässt. Mit großer Stilsicherheit nutzt sie Potenziale der Schubumkehr im Blick auf Menschen und Dinge. Es sind oft Gegenstände, die mit ihrer Positionierung im Raum und den Berührungen, die sie auslösen, Kommentar und Interpretation liefern. Dazu kommen für die Zeit unerhört radikale Körperbilder, wo sich Figuren wie der ausgepowerte Hilfslehrer Thomas als ungelenke Knochenbündel durch die Tage schleppen, um schließlich zu zerschellen.

Der Herausgeber schlägt für Lazars Stil den Begriff expressionistisch vor. Lazars „Die Vergiftung“ erinnert jedenfalls weniger an Melchior Vischers „Sekunde durch Hirn“ von 1920 als an Albert Ehrensteins 1911 erschienenes Debüt „Tubutsch“. Klar aber scheint ihre Sprache auf Veza Canetti vorauszuweisen. Wie sich Lazar literarisch weiterentwickelt hat, lässt sich in ihrem 1958 posthum erschienenen Roman „Die Eingeborenen vonMaria Blut“ nachlesen, einem 1935 geschriebenen fulminanten Panorama über die Zeit der Weltwirtschaftskrise und der wachsenden faschistischen Bewegungen am Beispiel einer Kleinstadt, in die hinein das Treiben des realen Betrügers Carl Schappeller verwoben ist, der im oberösterreichischen Aurolzmünster zunächst Urkraft-Stoffgewinnungsaggregate und dann die Bergung eines sagenhaften Hunnenschatzes versprach.

Zu Lebzeiten fand Maria Lazar nach ihrem Debüt im deutschsprachigen Raum keinen Verlag mehr. Ihre Romane publizierte sie aufgrund des wachsenden Antisemitismus unter dem Pseudonym Esther Grenen in Zeitungen wie dem „Berliner Tageblatt“ oder dem „Vorwärts“. „Leben verboten!“ ist bis heute nur in englischer Übersetzung erschienen. Es ist also zu hoffen, dass die Edition ihres Werks fortgesetzt wird. ■

Maria Lazar

Die Vergiftung

Hrsg. von Johann Sonnleitner. 168 S., brosch., €17,90 (DVB Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2015)

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