Auf einmal wieder gehen können

Als Kind bekam Jean Abbott die Diagnose „infantile Zerebralparese“.
Als Kind bekam Jean Abbott die Diagnose „infantile Zerebralparese“.(c) Jean Sharon Abbott
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15 Jahre lang saß Jean Abbott im Rollstuhl. Dann stellte sich heraus: Ihr Leiden war falsch diagnostiziert. Heute steht die 38-Jährige wieder auf eigenen Füßen.

Für die meisten Menschen ist es ein Schock, wenn ihnen der Arzt offenbart, dass sie wegen einer angeborenen Stoffwechselerkrankung im Rollstuhl sitzen müssen. Für Jean Abbott jedoch wird der Karfreitag des Jahres 2010, als ihr eine Krankheit namens Segawa-Syndrom diagnostiziert wurde, für immer ein Freudentag bleiben. Denn nach 15 Jahren im Rollstuhl und drei Jahrzehnte nach der Fehldiagnose als kleines Mädchen, an einem angeblichen unheilbaren Gehirnschaden – die Diagnose lautete infantile Zerebralparese, man spricht auch von „zerebraler Kinderlähmung“ – zu leiden, der ihr nach und nach die Kontrolle über Arme und Beine raubte, eröffnete sich der dreifachen Mutter aus dem US-Teilstaat Minnesota ein Ausweg: Das Segawa-Syndrom lässt sich nämlich zwar nicht heilen, mit einem bewährten Medikament aber so weit zurückdrängen, dass der Patient wieder die Herrschaft über seine Gliedmaßen gewinnt.

16 Kilometer gewandert

„Dieses Medikament ist wunderbar, und es hat mein Leben verändert“, sagt die heute 38-Jährige im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Bald nach Beginn der Therapie mit den Levodopa-Tabletten besserte sich ihr Zustand. Mit konsequenter Physiotherapie und der Hilfe ihres Ehemannes schaffte es Abbott, bald wieder auf eigenen Beinen zu stehen: zum ersten Mal, seit sie 18 Jahre alt gewesen war. Mittlerweile hat sie eine rund 16 Kilometer lange Wanderung durch zerklüftetes Gelände absolviert und ist in der Bewältigung ihres Alltags nicht mehr auf die Unterstützung anderer angewiesen.

Geheilt allerdings ist Jean Abbott nicht. Das Segawa-Syndrom, benannt nach jenem japanischen Neurologen, der es im Jahr 1970 als eigenständiges Krankheitsbild erkannte, ist eine genetische Stoffwechselerkrankung, die zu einer Störung des Metabolismus führt. Levodopa korrigiert diesen Fehler, doch zusätzlich müssen die Patienten Stress vermeiden sowie viel und regelmäßig schlafen. „Ich muss täglich Sport betreiben und mein Stressniveau niedrig halten“, sagt Abbott. Das ist angesichts dreier kleiner Kinder keine einfache Übung. „Als ich die neue Diagnose erhielt, wollte ich sofort alles auf einmal machen. Ich musste erst lernen, dass ich nicht alles auf einmal schaffen kann.“

Schlaf war der Schlüssel zur Entdeckung ihres tatsächlichen Krankheitsbildes. Ihr Mann schilderte der behandelnden Neurologin, Martha Nance, einer klinischen Professorin an der Universität von Minnesota, seine Beobachtung, der zufolge es Jean Abbott morgens nach dem Aufwachen deutlich besser gehe als mit fortschreitendem Tagesverlauf. „Er sagte: ,Das ist, als würde jemand morgens auf den Reset-Knopf drücken‘“, erinnert sich Abbott. Dieses Phänomen brachte Professor Nance auf die richtige Spur: Schlaf lindert nachweislich die Beschwerden von Segawa-Patienten.

Wie konnten die Ärzte irren?

All das wirft nun eine Frage auf: Wie konnten unzählige andere Ärzte mehr als drei Jahrzehnte lang mit ihrer Einschätzung derart falsch liegen? Wie auch immer die Antwort ausfallen könnte – Abbott hegt jedenfalls keinen Groll: „Ich hatte im Lauf der Jahre mit Dutzenden Ärzten zu tun. Aber das ist eine sehr seltene Krankheit. Und Ärzte sind auch nur Menschen, die manchmal Fehler machen. Ich bekomme jetzt noch regelmäßig E-Mails von Medizinern, die mir sagen, dass sie davon zum ersten Mal hören.“

In der Tat ist das Segawa-Syndrom höchst rar. Die National Institutes of Health in Maryland, die zu den weltbesten Forschungszentren für medizinische Grundlagenforschung gehören, beziffern in ihrem „Genetics Home Reference“-Register für Erbkrankheiten, dass von einer Million Menschen durchschnittlich einer an der Dopa-responsiven Dystonie leidet, wie das Segawa-Syndrom in der Fachsprache heißt. Vereinfacht gesagt stört dieser Schaden des Erbguts die Herstellung jener Neurotransmitter, mit denen das Gehirn den Bewegungsablauf steuert. Tests zur Feststellung dieser Krankheit gibt es erst seit wenigen Jahren – und sie sind ebenso wenig verbreitet wie das Wissen vieler Mediziner um diese selten vorkommende Krankheit.

Schließlich stellt sich bei der Diagnose das Problem, dass die Symptome (Muskelkrämpfe, Zittern, Kontrollverlust über den Bewegungsapparat) jenen der infantilen Zerebralparese, die ihr zunächst diagnostiziert wurde, täuschend ähnlich sind. Dieses Leiden ist nicht erblich bedingt, seine Lebensbeinträchtigung allerdings durch Physiotherapie bestenfalls leicht zu bewältigen. Es entsteht typischerweise durch Sauerstoffmangel knapp vor oder bei der Geburt, wodurch die für den Bewegungsapparat zuständigen Teile der Gehirnrinde absterben.

Keine Schuldgefühle haben

Jean Abbott rät Patienten, die den Verdacht hegen, dass ihnen eine falsche Krankheit diagnostiziert worden ist, zu Hartnäckigkeit und zum Einholen zweiter, dritter, vierter Fachmeinungen: „Kommunikation ist entscheidend. Ich hatte immer Ärzte, die mir gut zuhörten, und andere, bei denen ich das Gefühl hatte, bloß durch das System geschleust zu werden. Man sollte keine Schuldgefühle haben, bloß weil man sein eigener Fürsprecher ist.“ Sie bedauert es, dass viele Ärzte unter dem Druck vermeintlicher Unfehlbarkeit stehen; eigene Unwissenheit einzugestehen, werde oft als fachliche Inkompetenz angesehen. „Es kann äußert hilfreich sein, wenn Ärzte in Fällen, in denen sie sich nicht sicher sind, zum Aufsuchen eines Kollegen raten. Das gilt, denke ich, auch für viele andere Diagnosen. Ich wünschte, Mediziner stünden nicht unter so einem großen Druck, ständig alles wissen zu müssen.“

Nun möchte die 38-jährige Amerikanerin mit ihrer Erfahrung anderen Patienten, die an ähnlichen Krankheiten leiden, helfen. Die Absolventin eines Studiums für Kommunikationswissenschaften beschreibt den Umgang und die Eindämmung ihres Leidens auf ihrem eigenen Blog (www.jeanabbott.com) und sucht gerade nach einem Verlag, der ihre Memoiren veröffentlicht. Einen Titel dafür hat sie bereits: „From Wheels to Heels“– von den Rädern des Rollstuhls auf die eigenen Schuhabsätze.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2015)

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