Fehldiagnosen und falsche Behandlung

Arzt mit Roentgenbild
Arzt mit RoentgenbildErwin Wodicka - BilderBox.com
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Wie viele Behandlungsfehler es in Österreichs Spitälern gibt, kann nur geschätzt werden. Die Ursachen dafür, dass es zu Pannen kommt, sind dagegen bekannt.

Hätte Herr W. getan, was ihm die Ärzte sagten, wäre er jetzt tot. Mit großen Schmerzen war er von der Rettung in ein Krankenhaus gebracht worden – er war beim Arbeiten von zwei aufeinanderstehenden Sesseln gestürzt. In der Unfallabteilung wurde er geröntgt, seine Verletzung an der Schulter wurde behandelt. Er bekam einen Gilchristverband und eine Infusion gegen die Schmerzen. Und wurde nach Hause geschickt. Doch noch im Spital wurden die Schmerzen immer schlimmer, dazu kam eine massive Übelkeit. Und so bat er noch einmal darum, von einem Arzt untersucht zu werden. Er wartete – und wurde eine halbe Stunde später vom Arzt erneut nach Hause geschickt. Schulterblatt gebrochen, mehr nicht. Bitte morgen wieder zur Kontrolle kommen.

Hier können Sie nicht bleiben

Als er später die Schmerzen und die Übelkeit daheim nicht mehr aushielt, ließ er sich mit einem Taxi in ein anderes Spital bringen. Es folgte eine Infusion für den Kreislauf, ein Bluttest – doch der Blutbefund zeigte kein Problem. Man könne nicht mehr für ihn tun, er müsse jetzt wieder gehen. Hier könne er jedenfalls nicht bleiben. Schließlich landete er in einem dritten Spital. Dort wurde er nach anfänglichem Unmut erneut geröntgt. Zwei zusätzliche Rippenbrüche wurden diagnostiziert – und für den nächsten Tag ein Ultraschall vereinbart.

Nach einer Nacht ohne Schlaf kam er endlich zur Untersuchung – doch weil er sich wegen seiner Verletzung nicht auf den Rücken legen konnte, wollte der behandelnde Arzt gleich wieder abbrechen. Erst, als eine Schwester anbot, dass sich der Patient stattdessen an ihr anlehnen könne, nahm der Arzt die Untersuchung wieder auf. Wenige Sekunden später schlug der Mediziner Alarm. Der gesamte Bauchraum war gefüllt mit Blut. Sofort wurde eine Notoperation eingeleitet – die Milz war gerissen.

Es ist ein besonders krasser Fall, der im Bericht der Wiener Patientenanwaltschaft für das Jahr 2013 dokumentiert ist. Aber auch einer, der ein großes Problem im Umgang mit Patienten in Österreich aufzeigt: „Wenn die Erstdiagnose gestellt ist, wird sie nicht mehr infrage gestellt“, sagt Sigrid Pilz. Die Wiener Patientenanwältin ist laufend mit Fällen von Fehldiagnosen und Behandlungsfehlern konfrontiert, die Betroffene bei ihr melden. „In diesem Fall war die erste Diagnose nicht falsch – aber nicht vollständig.“ Und hätten nicht ein engagierter Taxifahrer und eine Schwester durch ihre Hilfe den Kreislauf der ärztlichen Routine durchbrochen, hätte der Fall tödlich enden können.

Dass auch Ärzten Fehler passieren können, ist klar. Wie oft das vorkommt, ist hierzulande allerdings nicht dokumentiert. Zwar können die einzelnen Patientenanwaltschaften in den Bundesländern die Zahlen der Menschen nennen, die sich mit Beschwerden an sie gewandt haben. Doch landet dort nur ein kleiner Teil, viele Fälle bleiben unerkannt, oder die Patienten finden sich einfach damit ab. Möglich ist ein Blick auf internationale Studien und die Umrechnung auf die österreichische Situation. Im Krankenhausreport der deutschen Gesundheitskasse AOK etwa ist bei rund 19 Millionen Klinikfällen von etwa einem Prozent, also 190.000 Behandlungsfehlern pro Jahr die Rede – und von 0,1 Prozent Todesfällen dadurch, also 19.000. Legt man diese Zahlen auf Österreich um, käme man auf rund 19.000 Fehler und 1900 Tote durch Behandlungsfehler.

Im eingangs erwähnten Fall führt die Patientenanwaltschaft das Problem auf organisatorische Mängel zurück – konkret auf mangelnde Kommunikation. Gerade im Umgang mit Patienten werden oft Routinen eingehalten, wird zu wenig zugehört. Auch wird der Anamnese zu wenig Beachtung geschenkt – dabei ließe sich durch eine genaue Eingrenzung manches später auftretende Problem schon im Vorhinein ausschließen. Pilz beklagt auch, dass es in Österreich keine Tradition habe, eine zweite Meinung einzuholen. „In Deutschland wird das etwa vor Operationen an Hüfte oder Knie von den Kassen finanziert. In Österreich gilt es als Majestätsbeleidigung – und die Kassa zahlt nicht, weil man nur einen Arzt pro Quartal aufsuchen darf.“

Vor allem bei seltener auftretenden Krankheiten, mit denen es wenige Erfahrungen gibt, wäre es besonders wichtig, den Austausch mit Kollegen zu suchen. Und dabei auch über Ländergrenzen hinweg zu denken. Somit könnte Patienten ein langer Leidensweg auf der Suche nach der richtigen Diagnose zumindest verkürzt werden. Und schließlich sollten Ärzte auch außerhalb ihrer Spezialisierung denken. Pilz spricht etwa von Patientinnen, die sich mehrfachen Schönheitsoperationen unterzogen haben – und die sich, unzufrieden mit dem Ergebnis, an die Patientenanwaltschaft gewandt haben. Dabei, so die Vermutung, verstecke sich hinter dem Wunsch nach einem anderen Äußeren ein seelisches Problem. Und das lasse sich nicht einfach dadurch lösen, dass am Körper herumgeschnitten wird. „Je unnotwendiger eine Operation ist, desto wichtiger ist die Aufklärung über Alternativen – oder auch die Nichtbehandlung.“

Allein, viele Patienten erwarten, dass sie operiert werden oder ein Medikament bekommen, und damit alles wieder gut wird. Die Aufforderung, das Leben umzustellen, etwa abzunehmen oder mit dem Rauchen aufzuhören, hören viele nicht gerne. Und so ist es für den Mediziner der bequemere Weg, einfach einmal etwas zu tun, was unter Umständen nicht das Beste für den Patienten ist. Mit dem Effekt, dass dieser bald wieder vor der Tür steht. „Hier fehlt es oft an der Gesundheitskompetenz der Menschen“, sagt Sigrid Pilz.

Dazu gehört auch zu verstehen, was der Arzt sagt – und es richtig bewerten zu können. Im besten Fall kann dadurch ein Dialog zwischen Patient und Mediziner entstehen, der auf Augenhöhe stattfindet. Vorausgesetzt natürlich, dass auch dem Arzt für diesen Dialog ausreichend Zeit und Ressourcen zur Verfügung stehen.

Hilfe

Patientenanwaltschaften. Jedes Bundesland hat eine Einrichtung, die Patienten bei der Vertretung ihrer Rechte im Gesundheits- und Spitalsbereich, in einigen Bundesländern auch in Sachen Pflege, hilft. Sie ist unabhängig und weisungsfrei.

Alle Adressen:
diepresse.com/patient

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2015)

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