Ostukraine: Rebellenrepublik will Rechtsstaat werden

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Nach Monaten des Krieges wollen die prorussischen Machthaber im Separatistengebiet Luhansk ihre Macht auf eine legale Basis stellen. Für die Bürger werden Pässe gedruckt - und bald soll auch die Justiz ihre Arbeit aufnehmen.

Luhansk. Als die Fotografen abdrücken, ist die Anspannung verflogen. Endlich strahlen die jungen Gesichter in die Kameras, hält jeder der zehn Schüler sein weinrotes Dokument hoch, damit es auch gut sichtbar ist auf dem Foto. Nur der Minister, ein Koloss von Mann in schwarzem Textil, blickt ernst in die Kameras. Schließlich ist es ein festlicher Moment: Ein „weiterer Schritt in Richtung Staatlichkeit“, wie er vorher gesagt hat.

„Passport“ prangt in Goldbuchstaben auf dem Ausweis, darüber ein sowjetisch wirkendes Abzeichen, und darüber noch eine Aufschrift: Luhansker Volksrepublik. Vor ein paar Minuten standen die zehn Schüler noch aufgereiht an einer Wand dieses für die Zeremonie eigens leer geräumten und mit der Luhansker Separatistenfahne geschmückten Büros, als könnte sich demnächst etwas Schlimmes ereignen. „Ich bin hier, weil wir Pässe bekommen“, erklärt eine 16-Jährige auf Nachfrage. Wie sie das finde? – „Ganz gut.“ Eine andere Schülerin spricht von der „großen Ehre“, Staatsbürgerin der LNR zu werden. Die anderen schweigen.

Ein Pass für nirgendwo

Vizeinnenminister Igor Markow spricht vom rechtlichen Kollaps, den die LNR, ein Teil des früheren ostukrainischen Gebiets Luhansk, bei ihrer gewaltsamen Ablösung von der Ukraine erlebt habe. Daher habe man entschieden, die Rechte jener zu schützen, die es am nötigsten hätten: die junge Generation. Es sind jene zehn von insgesamt 1,2Millionen Bürgern, die nun mit ihren 16 Jahren, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die ersten Pässe der jungen Republik erhalten.

Markow spricht von der Zukunft und vom Studieren in Russland, obwohl noch nicht einmal klar ist, ob man mit dem Pass, der eigentlich ein Personalausweis ist, überhaupt nach Russland reisen kann. Alle anderen Staaten kommen sowieso nicht infrage. Derzeit liefen Gespräche zwischen Luhansk und Moskau, erzählt er. „Die Frage ist praktisch entschieden.“

Die Separatisten von Luhansk haben wie ihre Verbündeten in Donezk vor mehr als einem Jahr die „Eigenständigkeit“ von der Ukraine erklärt. Es ist ein verschwommener Begriff, kann Autonomie oder gar Unabhängigkeit bedeuten. Der Status der Ungeklärtheit gehört zum Kalkül der LNR. Im vergangenen Sommer standen die ukrainischen Truppen am Rande der Hauptstadt Luhansk, ihre Geschosse gingen auf die Bewohner der Stadt nieder.

Aus der einst eine halbe Million Einwohner zählenden Stadt flohen mehr als die Hälfte der Bürger. Die Belagerung dauerte mehrere Wochen, es gab kein fließendes Wasser, bei den Verbliebenen hat sie tiefe Spuren in der Psyche hinterlassen. Doch Luhansk fiel nicht im heißen Sommer von 2014. Heute steht die ukrainische Armee abgedrängt im 20 Kilometer entfernten Schastia, der Beschuss ist vom Zentrum aus in der Ferne zu hören.

Doch Luhansk läuft trotz der relativen Ruhe noch immer im Kriegsmodus. Der äußere Feind lauert gefühlt an jeder Straßenecke, Bewaffnete „bewachen“ zu jeder Tages- und Nachtzeit die Ausländer im Hotel der Stadt, der Geheimdienst ist bei verdächtigen Personen schnell und in großer Zahl zur Stelle, Männer in Tarnuniformen und ohne Abzeichen ziehen durch die schnurgeraden Straßen.

Es ist kein guter Ruf, der der LNR vorauseilt: Die LNR gilt als Territorium von Räubern und Warlords, die sich um Gesetze nicht scheren und ihre Opponenten in Kellern verschwinden lassen. Doch damit soll jetzt Schluss sein. Die „Eigenständigkeit“ soll auf legitimen rechtlichen Füßen stehen. Die Führung von Luhansk hat begonnen, die politische Wirklichkeit in Worte zu fassen. Es gibt eine Verfassung, auch ein Gesetz über das Kriegsrecht hat Staatschef Igor Plotnitskij kürzlich unterzeichnet: Damit im Ernstfall alles mit rechten Dingen zugeht. „Wir bauen einen Staat auf mit einer Volksmiliz, Ministerium für Staatssicherheit, Innenministerium, einer Staatsanwaltschaft, Gerichten“, erklärt Minister Markow.

Ukrainische Symbole verboten

Die Insignien des neuen Kleinstaates prangen in großen Buchstaben an den öffentlichen Gebäuden. Hier die Steuerinspektion, dort die Generalstaatsanwaltschaft. Ukrainische Symbolik ist per Ukas verboten, denn sie sei für die Hiesigen nach dem Erlebten „nicht mehr angenehm“, wie Alexandra Belokon, Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft, erklärt.

Plotnitskijs Verbot als fürsorgliches Mittel zur Regulierung des Gefühlshaushalts der Bürger? „Die Menschen müssen verstehen, was das ist – der neue Staat“, sagt Belokon. Die junge Juristin hilft nun mit bei der Entwicklung einer „einheitlichen rechtlichen Sphäre“. Es ist ein durchaus eklektizistischer Zugang zum Rechtswesen, den die Behörden hier gewählt haben. „Glauben sie nicht, wir würden alle Gesetze von der Russischen Föderation abschreiben“, sagt Belokon. „Wir nehmen das Beste von allem und schaffen etwas Eigenes.“

Gerichte funktionieren nicht

Das größte Justizproblem der LNR ist, dass ihre Justiz nicht funktioniert. Die Gesetze, die die Gerichtsbarkeit legitimieren sollen, sind noch im Entstehen, und es fehlt an Richtern, viele sind geflohen. So hat man die Staatsanwaltschaft dazu ermächtigt, die Untersuchungshaft auszudehnen, wovon sie derzeit ausgiebig Gebrauch macht. Es türmen sich die Fälle ohne Aussicht auf Verurteilung oder Freispruch.

Doch es gibt Fälle, die ein anderes Bild von den Luhansker Separatisten zeichnen als jenes geordnete, das Belokon vermitteln will. Im Internet ist ein Video abrufbar, das zeigt, wie der Kommandant Alexej Mosgowoj in der Stadt Altschewsk im Vorjahr ein „Volksgericht“ einberuft. Bewohner von Altschewsk sollten über das Schicksal zweier mutmaßlicher Vergewaltiger von Minderjährigen entscheiden. Es gab keine unabhängige Ermittlung, keine Zeugen, keine Anhörung der Beschuldigten. 271 der 290 Anwesenden sprachen sich in einem Fall für Tod durch Erschießen aus.

Wenn man Belokon auf das Altschewsker Volksgericht anspricht, reagiert sie, als wäre dies eine Episode aus der Sagenwelt der LNR. „Ach das...“ Der Mann sei nie erschossen worden, er stünde noch immer unter Arrest. Was in Altschewsk passierte, war ihr zufolge lediglich eine „Aufführung, die dem Volk zeigen sollte, dass man die Ordnung einhalten muss“.

Kommandant Mosgowoj getötet

Der Altschewsker Kommandant Alexej Mosgowoj, Chef des Bataillons "Gespenst", starb übrigens am vergangenen Samstag im Kugelhagel, als Unbekannte das Feuer auf seine Autokolonne in der Nähe von Altschewsk eröffneten. Außer Mosgowoj, der als Kritiker der LNR-Führung um Igor Plotnitskij galt, kamen sechs seiner Begleiter ums Leben. Es ist nicht der erste tödliche Angriff auf die mächtigen Warlords in der LNR; schon seit einigen Wochen kommt es immer wieder zu brutalen "Säuberungsaktionen", denen bereits mehrere Lokalherrscher zum Opfer gefallen sind, die sich der politischen Führung nicht unterordnen wollten. In sozialen Netzwerken wurde der Verdacht geäußert, dass die Luhansker Führung selbst hinter der tödlichen Attacke stecken könnte. Justiz und Selbstjustiz liegen in Luhansk womöglich gar nicht so weit auseinander.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2015)

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