Vitale demokratische Signale am Bosporus.
Wann hatte die EU zuletzt Lob für die Türkei in petto? Der Verdruss am autokratischen Gehabe der Regierung Recep Tayyip Erdoğans war zur Begleitmelodie Brüssels an der Kritik an Ankara geworden, ohne dass sich am Bosporus jemand groß daran gestoßen hätte. Also würdigten die EU-Kommissare Mogherini und Hahn nun unvermutet die neue Stärke der türkischen Demokratie. Dass bei den Parlamentswahlen im Großen und Ganzen Manipulationen ausgeblieben sind und dass die Kurdenpartei HDP die Zehn-Prozent-Hürde souverän übersprungen hat, ist tatsächlich ein Zeichen für die Rückkehr Ankaras in die Normalität.
Nur Erdoğan hatte es die Sprache verschlagen. Wochenlang war er als Präsident im Wahlkampf, im In- wie im Ausland, durch die Lande gezogen, um die Wahl zu einem Referendum in eigener Sache, über eine auf ihn zugeschnittene Präsidialrepublik, umzufunktionieren. Rund 60 Prozent der Wähler haben ihm für seine exzessiven Machtallüren und seine Willkür die Rechnung präsentiert – auch dies ein vitales demokratisches Signal.
Die Präsidentenpartei AKP büßte erstmals seit ihrer Gründung die absolute Mehrheit ein und muss sich den demokratischen Spielregeln fügen – entweder in einer Koalition Kompromisse eingehen oder in Opposition gehen. Wenn aus der AKP indessen bereits der Ruf nach Neuwahlen ertönt, beweist dies nur, dass Erdoğan und Co. die Lektion nicht begriffen haben: Die Türken dulden keinen Minidiktator im demokratischen Anzug.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2015)