Das Land am Bosporus geht spannenden, aber instabilen Zeiten entgegen.
Der Ausgang der türkischen Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag wurde von allen, die das autoritäre Gehaben Präsident Recep Tayyip Erdoğans ablehnen, mit Jubel begrüßt und als Sieg der Demokratie gefeiert. Tatsächlich erlitt Erdoğan, der in Verletzung seiner Verpflichtung zur Unparteilichkeit als Staatspräsident der Hauptwahlkämpfer der regierenden AKP war, eine schwere Schlappe. Die AKP ist von einer Verfassungsmehrheit nun weiter entfernt denn je, und Erdoğan muss daher sein Lieblingsprojekt eines Präsidentschaftssystems nach türkischer Art vorläufig auf Eis legen.
Noch schwerer wiegt, dass die AKP die absolute Mehrheit verloren hat und nicht mehr in der Lage ist, eine Alleinregierung zu bilden. Ausschlaggebend für dieses Resultat war das gute Abschneiden der prokurdischen Demokratischen Volkspartei HDP, die die in der Türkei für den Einzug in das Parlament geltende exorbitante Zehn-Prozent-Hürde locker überspringen konnte.
Ihr charismatischer Führer, Selahattin Demirtas, hatte seit Jahren konsequent die Öffnung seiner Partei für nicht kurdische Wähler betrieben und im Wahlprogramm soziale Themen ebenso wie die Interessen besonderer Bevölkerungsgruppen in den Vordergrund gestellt. So wurde die Kandidatenliste der HDP zu mehr als der Hälfte mit Frauen besetzt, ein nicht nur für die Türkei bemerkenswerter Vorgang. Auch viele Kurden, die sich von Erdoğan eine Erfüllung ihrer Anliegen versprochen hatten und in der Vergangenheit daher die AKP gewählt haben, dürften sich von dieser abgewandt und zur HDP gewandert sein.
Strategisches Wahlverhalten
Ein weiterer Faktor war schließlich das strategische Wahlverhalten von Anhängern der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP, die dieses Mal für die HDP gestimmt haben, um ihr den Einzug in das Parlament zu ermöglichen und damit den Machtgelüsten des Präsidenten einen Riegel vorzuschieben.
Nach der Euphorie der Wahlnacht macht sich nun die Erkenntnis breit, dass es aufgrund der neuen Konstellation schwierig sein wird, eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Für Erdoğans AKP käme wohl nur eine Koalition mit der nationalistischen Partei MHP infrage, die jedoch ein Präsidentschaftssystem vehement ablehnt und einer Koalition mit der AKP zunächst eine Absage erteilt hat.
Der Ball liegt bei Erdoğan
Viele säkulare Türken wünschen sich ein Zusammengehen der drei Oppositionsparteien und sehen darin die besten Chancen für die dringend notwendige Stärkung der Grund- und Freiheitsrechte sowie einer unabhängigen Justiz in der Türkei. Rechnerisch wäre eine solche Koalition durchaus möglich, demokratiepolitisch allerdings nicht unbedenklich, ist die AKP doch weiter die stärkste Partei des Landes. Es bliebe somit nur noch die Möglichkeit einer AKP-Minderheitsregierung, die allerdings kaum von langer Dauer sein würde.
Laut türkischer Verfassung muss innerhalb von 45 Tagen eine Regierung gebildet werden, sonst sind Neuwahlen auszuschreiben. Der Ball liegt jetzt bei Präsident Erdoğan, der sich nach Jahren des steten Machtzuwachses einer neuen Situation gegenübersieht. Wie er darauf reagieren wird, ist schwer vorauszusehen. Ebenso wenig kann gesagt werden, ob die Oppositionsparteien den Mut und das Geschick aufbringen, unabhängig von der Regierungsbildung bereits jetzt ihre Mehrheit im Parlament dazu zu nutzen, die von ihnen gewünschten Reformen in Gang zu setzen. Die Türkei geht jedenfalls spannenden, aber auch instabilen Zeiten entgegen.
Dr. Albert Rohan (*1936 in Melk) studierte Rechtswissenschaften in Wien und hatte Spitzenposten im österreichischen diplomatischen Dienst inne; zuletzt war er Generalsekretär des Außenamts.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2015)