Binnenmarkt, Euro, Erasmus: Österreichs EU-Bilanz

Demonstration von EU-Kritikern vor dem Parlament
Demonstration von EU-Kritikern vor dem ParlamentAPA
  • Drucken

Veränderungen durch den Beitritt. Die Wirtschaft profitierte von der Mitgliedschaft, für den Einzelnen bringen u. a. Öffnung des Arbeitsmarkts und Abschaffung des Roamings Vorteile.

Es war eine Entscheidung von herausragender Tragweite, und zwei Drittel sagten Ja: Eine deutliche Mehrheit der österreichischen Bevölkerung votierte am 12. Juni 1994 für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Welche Chancen und Verpflichtungen mit dieser Wahl für die Republik einhergingen, welch weitreichende Veränderungen sich für jeden Einzelnen, aber auch für Wirtschaft und Politik vollziehen würden, konnten die meisten damals nur erahnen: Immerhin ist die Union ja kein starres Gebilde, sondern entwickelt sich durch ökonomische Einflüsse, Erweiterungsrunden und zahlreiche andere Faktoren stetig fort. In den vergangenen Jahren bestimmte vor allem die Eurokrise das politische Geschehen in Brüssel – was das Vertrauen der österreichischen Bevölkerung in „die EU“ nicht gerade steigerte.

Dennoch fällt Österreichs Bilanz mehr als 20 Jahre nach dem Beitritt großteils positiv aus. Betrachtet man die ökonomische Entwicklung, so hat sich die Mitgliedschaft bisher klar gelohnt. Dank des EU-Beitritts sei die heimische Wirtschaft bis zur Krise jährlich um ein halbes bis zu einem Prozent zusätzlich gewachsen, analysiert Wirtschaftsforscher Fritz Breuss (Wifo). Pro Jahr konnten demnach 18.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Diese Entwicklung ist auf die verschiedenen, großen Stufen des Integrationsprozesses zurückzuführen, die seit 1995 vollzogen wurden: allen voran die Teilnahme an gemeinsamem Binnenmarkt und Währungsunion sowie der großen EU-Erweiterung 2004. Allerdings stagniere der „EU-Wachstumsbonus“ nunmehr durch die lahmende Konjunkturentwicklung: „Neue Impulse müssen jetzt von innen kommen“, mahnt Breuss.

Nicht alle Branchen machten von Anfang an so starke Zugewinne wie die Außenhandelsunternehmen, die durch den Wegfall von Zollkontrollen und anderen Handelshemmnissen laut Wirtschaftskammer (WKÖ) im Export jedes Jahr 1,7 bis 4,3 Milliarden Euro einsparen können. Die klein strukturierte, heimische Lebensmittelindustrie etwa stand durch den Beitritt in plötzlicher Konkurrenz zu europäischen Großunternehmen, konnte nach anfänglichen Schwierigkeiten aber eine Exportsteigerung von 465 Prozent seit dem Beitritt erreichen.

Für den Tourismus brachte die EU-Osterweiterung einen immensen Gewinnzuwachs. Seit 2005 ist die Zahl der Nächtigungen aus sechs der zehn neu beigetretenen Mitgliedstaaten um 74 Prozent gestiegen. Insgesamt entfallen 82 Millionen der 97 Millionen Übernachtungen von Nichtösterreichern auf andere EU-Bürger.

Weitreichendster Einschnitt

Doch auch für den einzelnen Bürger war die Teilnahme am Binnenmarkt und damit der freie Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr der wohl weitreichendste Einschnitt, den die EU-Mitgliedschaft brachte: Ein Arbeitsmarkt, der nicht einen, sondern 28 Staaten umfasst, bedeutet theoretisch nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Theoretisch, wohlgemerkt: Denn wie in Österreich verschärfte die Schuldenkrise die Arbeitsplatzsituation auch in den meisten anderen Mitgliedstaaten zusehends.

Die Konkurrenz auf dem heimischen Arbeitsmarkt hat dafür in den vergangenen Jahren leicht zugenommen: Nach dem Ende einer siebenjährigen Übergangsfrist wurden die Grenzen für Arbeitnehmer aus den „neuen“, 2004 und 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten geöffnet; im Jahr 2011 stieg die Ausländerbeschäftigung um rund 105.000 Arbeitskräfte an. Die Arbeitslosigkeit ist seit 1995 (damals: 7,1 %, April 2015: 9,1 %) im Übrigen leicht gestiegen – dies freilich auch krisenbedingt.

Speziell für junge Menschen bieten sich heute aber mehr Chancen als je zuvor, schon während des Studiums wertvolle Erfahrungen im europäischen Ausland zu sammeln und so die späteren beruflichen Aussichten zu verbessern. Rund 75.000 österreichische Studierende haben bisher am EU-Austauschprogramm Erasmus teilgenommen, konnten Sprachkenntnisse dazugewinnen oder verbessern und Freundschaften fürs Leben schließen.

Österreich nimmt zwar schon seit 1992 an Erasmus teil, die Zahl heimischer Erasmus-Studierender aber stieg nach dem Beitritt noch einmal stark an. Besonders beliebt sind Aufenthalte in den großen Mitgliedstaaten Spanien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland; weniger gefragt hingegen Luxemburg und Rumänien.

Kein Geldwechsel mehr nötig

Die weitreichendste Neuerung in der jüngeren Geschichte der EU war zweifelsfrei die Währungsunion, zu deren Gründerstaaten Österreich zählt. Schon von Beginn an war die Euphorie in der heimischen Bevölkerung jedoch nicht ungebrochen groß: Viele Menschen bezeichneten es als schmerzlichen Verlust, als am 1. Jänner 2002 erstmals Euro- und keine Schillingnoten mehr aus dem Bankomaten kamen.

Die Krise hat diese Gefühle und Ressentiments noch verstärkt – und auch das subjektive Empfinden, dass seit Einführung der neuen Währung „alles teurer geworden“ ist. Tatsächlich war die Preissteigerung bei vielen Gütern des täglichen Bedarfs – wie Lebensmitteln und alkoholfreien Getränken, Kraftstoffen oder auch Zeitungen – höher als vor der Euro-Einführung. Fotoapparate und optische Geräte, Bücher, Autos oder Haushaltsgeräte wiesen dagegen eine vergleichsweise geringere Inflation auf.

Und der Euro hat – besonders für Vielreisende – freilich auch praktische Vorteile gebracht. So gehören der lästige Bargeldtausch und das Berechnen von Wechselkursen beim Urlaub im EU-Ausland heute großteils der Vergangenheit an: In 19 EU-Staaten wird mittlerweile mit dem Euro bezahlt.

Unbeschwertes Telefonieren

Apropos Urlaub: Wer auch im Ausland nur ungern auf lange Telefonate mit den Daheimgebliebenen verzichten möchte oder am Strand stundenlang im Internet surft, kann dies seit einiger Zeit ein wenig unbeschwerter tun: EU-weit gibt es nämlich eine europäische Begrenzung für Roamingaufschläge. So dürfen Mobilfunkanbieter von Kunden im europäischen Ausland nicht mehr als 19 Cent pro Minute für abgehende Anrufe, fünf Cent für ankommende Anrufe, sechs Cent pro versendeter SMS und 20 Cent pro einem Megabyte Daten verlangen.

Über eine völlige Abschaffung der Roaminggebühren – wie sie das EU-Parlament fordert – besteht unter den Mitgliedstaaten derzeit aber keine Einigkeit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Europa

War der Schweizer Weg der bessere?

20 Jahre EU-Beitritt. Österreich entschied sich zur Vollmitgliedschaft, die Schweiz versuchte, ihre Unabhängigkeit zu erhalten, und knüpfte ein Vertragsnetz mit Brüssel. Zwei Wege, die nur auf den ersten Blick ganz verschieden sind.
Europa

Harte Währung, große Konzerne

Konjunktur. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise wächst die Wirtschaft in Österreich langsamer als in der Schweiz. Davor war es umgekehrt.
Ökonom Fritz Breuss
Europa

„Die Schweizer haben sich die Rosinen herausgepickt“

Dass sich Großbritannien nach dem EU-Austritt zu einer zweiten Schweiz entwickeln könnte, hält Volkswirt Fritz Breuss für Wunschdenken – und die politisch-ökonomische Struktur der Eidgenossenschaft für einzigartig.
Die Schweizer Nationalbank
Europa

Die Franken-Falle: Wilde Stürme im sicheren Hafen

Währungspolitik. Lang sah es so aus, als käme der Franken harmonisch mit dem mächtigen Euro aus. Doch dann kamen die Schuldenkrise und der Mindestkurs. Durch dessen spektakuläres Ende bleibt kein Stein auf dem anderen.
Wer steht hier im Vordergrund?
Europa

Der „Königsweg“ brachte Bern neue Abhängigkeiten

Bilaterale Kooperation. Die Schweiz hat sich gegen einen Beitritt und für bilaterale Verträge mit der EU entschieden. Sie bestimmt in Brüssel nicht mit, muss aber viele der dort entschiedenen Regeln übernehmen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.