Die Schweiz und Europa: „Splendid Isolation“ in den Alpen

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Gastkommentar. Der Blick der Schweizer auf die EU war noch nie so skeptisch – selbst im weltoffenen frankofonen Teil des Landes.

Der Ratschlag kam ausgerechnet aus dem rechtskonservativen Lager. Der Bundesrat in Bern müsse sich endlich ein Vorbild an der linksradikalen Truppe in Athen nehmen und gegenüber Brüssel nur genug entschlossen oder vielleicht sogar auch einmal etwas rabiat auftreten. Einige sähen es gern, Schweizer Bundesräte würden gegenüber der EU poltern und drohen wie die Minister der Syriza-Regierung.

Vorbilder können viel über den Seelenzustand einer Nation aussagen. Vor allem der glatzköpfige und krawattenlose Finanzminister Yanis Varoufakis genießt bis nach Helvetien Kultstatus. Doch was haben die Regierungen in Bern und Athen gemeinsam? Beide Regierungen haben derzeit ein Problem mit Brüssel. Darüber hinaus erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten. Die Schweiz wäre als Euromitglied sicher deutscher als Deutschland, wenn es um Auflagen für Schuldensünder ginge.

Der Feind meines Feindes

Manchmal ist jedoch der Feind meines Feindes mein Freund. Der Bundesrat ist mit Brüssel im Clinch, seit die Schweizer 2014 die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative mit knapper Mehrheit angenommen haben. Ein neuer Verfassungsartikel schreibt vor, dass die Schweiz ab 2017 die Zuwanderung aus der EU wieder selbst steuern und inländische Arbeitskräfte bevorzugt behandeln muss. Das steht aber im Widerspruch zu den bilateralen Verträgen, Grundlage der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.

Seit eineinhalb Jahren versucht der Bundesrat nun, mit der EU ins Gespräch zu kommen und das Abkommen über die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln. Bisher allerdings vergeblich. Auch, weil bei den Partnern das Verständnis für das Problem der Schweizer mit der Zuwanderung meist hoch qualifizierter Arbeitskräfte fehlt. Deshalb der Ruf in der Schweiz nach „mehr griechischer Frechheit“. Die Kritiker verkennen allerdings, dass die Hellenen im Gegensatz zu den Helvetiern über Erpressungspotenzial verfügen.

Ein Rauswurf der Griechen aus der Eurozone hätte unabschätzbare Folgen. Die Schweizer sind hingegen nicht Mitglied im Klub. Sie werden kaum die Durchfahrt durch den Gotthard blockieren oder den Handel mit der EU einstellen. Deshalb würde es nichts nützen, in Brüssel Griechen zu spielen. Hinzu kommt, dass die Schweizer den Konflikt mit Brüssel leicht selbst aus der Welt schaffen können. Sie müssen nur das Abkommen über die Personenfreizügigkeit aufkündigen.

Auf der schiefen Bahn

Dann ginge aber auch der privilegierte Zugang zum Binnenmarkt der EU verloren. Denn für Brüssel und die Mitgliedstaaten ist die Personenfreizügigkeit Teil des Pakets, das einst mit der Schweiz vereinbart wurde. Auf den Zugang zum Binnenmarkt will in der Schweiz aber kaum jemand verzichten. So ist man sich zwischen Bern und Brüssel derzeit vor allem einig, dass man sich uneinig ist. Auf absehbare Zeit ist da auch kein Ausweg aus der Sackgasse in Sicht. Dabei befindet sich die Beziehung schon länger auf der schiefen Bahn. In Brüssel ist die Schweiz mit jedem Erweiterungsschritt der EU weiter an den Rand des Radars gerückt. Die Schweiz fühlt sich gleichzeitig in ihrer Rolle als Sonderfall unverstanden und wehrt sich vergebens gegen das Image des Rosinenpickers. Und zieht bei dem, was in Brüssel beschlossen wurde, oft „autonom“ nach. Die Schweizer plagt der Phantomschmerz über die verlorene Selbstständigkeit.

Sogar in der einst europafreundlichen frankofonen Westschweiz wäre heute ein EU-Beitritt chancenlos. Die Eurokrise hat auch in der Schweiz ihre Spuren hinterlassen. Als Zaungäste verfolgen die Schweizer die Turbulenzen um die Einheitswährung mit einer Mischung aus unterschwelliger Furcht und offener Schadenfreude. Geht das europäische Experiment schief, könnten sich die Eidgenossen immerhin in ihrem Entscheid bestätigt sehen, dem Klub nicht beigetreten zu sein. Die Schweizer leben immer mehr auf einer Insel mitten in Europa, in einer Art Splendid Isolation in den Alpen.

Zum Autor

Stephan Israel (* 1961) ist seit 2002EU-Korrespondent des „Tages-Anzeigers“. Vor seinem Einsatz in Brüssel berichtete der gebürtige Züricher zehn Jahre lang für verschiedene Schweizer und deutsche Zeitungen aus Wien und Belgrad. [ ASD ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

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