Der „Königsweg“ brachte Bern neue Abhängigkeiten

Wer steht hier im Vordergrund?
Wer steht hier im Vordergrund?imago/Ralph Peters
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Bilaterale Kooperation. Die Schweiz hat sich gegen einen Beitritt und für bilaterale Verträge mit der EU entschieden. Sie bestimmt in Brüssel nicht mit, muss aber viele der dort entschiedenen Regeln übernehmen.

„Das bilaterale Vertragssystem hat eine Eigendynamik entwickelt, deren Taktgeber die EU ist. Das Netzwerk der Verträge wird zum Spinnennetz. Und wir sind nicht die Spinne!“ Das schreibt der Schweizer Politologe Dieter Freiburghaus. Er hat in seinem Buch „Königsweg oder Sackgasse“ eine zwiespältige Bilanz über sechzig Jahre Europapolitik seines Heimatlandes gezogen.

Die Schweizer Bevölkerung votierte 1992 gegen einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und damit gegen eine institutionelle Anbindung an die EU. Als Alternative suchte die Regierung eine Annäherung an die Europäische Union über bilaterale Verträge. Diese sollten die Unabhängigkeit der Schweiz erhalten, dem Land aber gleichzeitig eine Einbindung in den europäischen Binnenmarkt ermöglichen.

Der „Königsweg“ stellte sich in der Praxis jedoch weit schwieriger dar als angenommen. „Dieses Abkommenssystem ist nicht statisch, es entwickelt sich weiter, greift auf immer neue Politikfelder aus, wird damit immer unkündbarer und droht so, unsere Autonomie immer mehr einzuschnüren“, schreibt Freiburghaus in einem Beitrag für die „Neue Zürcher Zeitung“. Tatsächlich ist es eine Vielzahl von Einzelverträgen, die Bern mit Brüssel abgeschlossen hat. Sie laufen letztlich darauf hinaus, dass die Schweiz viele EU-Beschlüsse nachvollziehen muss.

Im Rahmen der sogenannten „Bilateralen Verträge I“ wurden 1999 sieben Abkommen zwischen der Schweiz und der EU geschlossen. Sie reichen vom Abbau technischer Handelshemmnisse über Freizügigkeit, öffentliche Aufträge, Landwirtschaft, Landverkehr, Luftverkehr bis hin zur Forschung. 2004 folgten die „Bilateralen Verträge II“ mit weiteren Abkommen über Dienstleistungen, Landwirtschaftsprodukte und eine Teilnahme der Schweiz am Schengen-Abkommen sowie an der gemeinsamen Asylpolitik. All dies war der Wille der Schweizer Politik und wurde durch Volksabstimmungen abgesegnet. Im Jahr 2000 stimmten 67,2 Prozent der Schweizer für die „Bilateralen Abkommen I“. Im Jahr 2005 folgte ein Ja mit 54,6 Prozent zur Teilnahme am Schengen-Abkommen und an der gemeinsamen Asylpolitik.

Ein EU-Vollbeitritt, der für die Schweizer Regierung kurz nach der Wende in Osteuropa noch so attraktiv schien, dass sie 1992 einen offiziellen Antrag auf Mitgliedschaft stellte, wurde nach dem negativen EWR-Referendum ad acta gelegt. Für einen solchen Schritt zeichnete sich auch in den Jahren danach keine Mehrheit bei der dafür notwendigen Volksabstimmung ab. Eine Volksinitiative „Ja zu Europa“, die den Start der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2001 dennoch durchsetzen wollte, scheiterte deutlich mit einer Zustimmung von lediglich 23,2 Prozent.

Guillotine-Klausel

Weil die bilateralen Verträge eine wirtschaftliche Anbindung an die EU ermöglichten, wurden sie von den Schweizern hingegen mitgetragen. Ihr Nachteil ist allerdings, dass sie kaum Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Denn die Schweiz kann – wie sich am aktuellen Konflikt um Zuwanderungsbeschränkungen für EU-Bürger zeigt – keinen Teil der Verträge herausbrechen. Grund ist eine Guillotine-Klausel. Im Falle einer Kündigung eines Vertragsteils würden auch alle anderen Abkommen der „Bilateralen I“ hinfällig. Sagt die Schweiz also nachträglich Nein zur Öffnung des Arbeitsmarkts, hätte das fatale Folgen für die Teilnahme am EU-Binnenmarkt. Die Schweiz wäre von Dienstleistungen in der EU, vom Flugverkehr und von vielen anderen Bereichen abgekoppelt. Die EU-Verhandler wollten mit der Guillotine-Klausel sicherstellen, dass sich die Schweiz nicht nur jene Teile des Abkommens herauspickt, die ihr Vorteile bringen.

Auch mit Ausnahmeregelungen hatte die Schweiz bisher wenig Glück. Denn in der EU gibt es aus einem einfachen Grund wenig Spielraum dafür. Würde nämlich die EU-Kommission den Eidgenossen Vorteile gewähren, die sie eigenen Mitgliedstaaten vorenthält, würde sie ihre Macht innerhalb der Union selbst untergraben. Sie verlangt vielmehr seit Jahren, dass Bern alle neuen Regelungen automatisch übernimmt.

Machen die EU-Regierungen und EU-Institutionen gemeinsam gegen den Partner Druck, hat auch die Schweiz kaum Chancen, sich ihrem Willen zu entziehen. Dies wurde am Beispiel des Bankgeheimnisses deutlich. Lange wurde es von Regierungsmitgliedern in Bern als unumstößlich bezeichnet. Im Frühjahr 2015 haben sich die Schweizer Regierung und die EU-Kommission dennoch über einen Austausch von Bankdaten geeinigt. Das einstige Geschäftsmodell eidgenössischer Banken wurde mit einem Schlag beseitigt. Der Grund: Die Schweizer Finanzwirtschaft ist von den Partnern in der EU abhängig. Der Bankensektor trägt allein 15 Prozent zur gesamten Wertschöpfung des Landes bei.

Die Nachhaltigkeit des bilateralen Wegs steht in der Schweiz längst infrage. Denn für die Verantwortlichen in der Politik wird es immer heikler, Entscheidungen, die von 28 Mitgliedstaaten getroffen wurden, ohne die Chance auf Mitbestimmung zu übernehmen. Dazu kommt, dass mit der Übernahme von EU-Regeln auch die Selbstbestimmung durch Volksinitiativen eingeschränkt wird. Das System der direkten Demokratie gerät so automatisch an seine Grenzen. Auch Freiburghaus fragt sich in seiner Bewertung der bilateralen Verträge, „wie lange die Schweiz bereit ist, um des Mammons willen in einem halb kolonialen Verhältnis mit der EU zu leben“.

Schweiz zahlt an die EU

Auch finanziell bringt der Sonderweg nur wenige Vorteile. Obwohl die Schweiz keinen EU-Mitgliedsbeitrag leisten muss, zahlt sie jährlich viele Millionen Franken in das EU-Budget ein. Denn sie muss anteilsmäßig für jene EU-Programme und Politikfelder zahlen, an denen sie teilnimmt. Das betrifft etwa das Luftfahrtsabkommen, für das Bern die Europäische Agentur für Flugsicherheit mitfinanzieren muss, oder das Schengen-Abkommen, für das Geld an die EU-Grenzschutzagentur Frontex fließt.

Zwischen 2004 und 2013 trug die Schweiz insgesamt 775,3 Millionen Franken (745 Mio. €) allein für die Forschungsrahmenprogramme der Europäischen Union bei. Eine gewaltige Summe, von der immerhin ein guter Teil durch Förderungen wieder ins Land zurückfloss.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

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