Weggabelung für Beziehung EU–Schweiz

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Zuwanderung. Eidgenossen wollen die Einwanderung begrenzen, was der in den bilateralen Verträgen vereinbarten Personenfreizügigkeit zuwiderläuft.

Es war im Februar 2014, als die Beziehung der Schweiz zur EU in eine ernsthafte Krise schlitterte. Die Eidgenossen stimmten damals in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit von 50,3 Prozent für eine Begrenzung der Zuwanderung – wobei die „gesamtwirtschaftlichen Interessen“ des Landes berücksichtigt werden sollten. Rund 1,8 Millionen der knapp acht Millionen Einwohner der Schweiz sind Ausländer. Brüssel aber lehnte eine Neuverhandlung des seit 2002 gültigen Personen-Freizügigkeitsabkommens von Beginn an kategorisch ab: Dieses ist Inhalt mehrerer bilateraler Verträge zur wirtschaftlichen Kooperation und gehört zu den wichtigsten Eckpfeilern des gemeinsamen EU-Binnenmarkts. Es sieht vor, dass sowohl Schweizer als auch EU-Bürger ihren Wohnsitz frei wählen können, wenn sie einen gültigen Arbeitsvertrag, eine selbstständige Erwerbstätigkeit oder ein ausreichendes Vermögen zur Bestreitung ihres Unterhalts vorweisen können. Die Einwanderung aus den EU-Staaten ist seit Abschluss des Freizügigkeitsabkommens freilich stark gestiegen: Jährlich lassen sich im Schnitt 80.000 Menschen in der Schweiz nieder. Damit ist die Zuwanderung in das Alpenland laut Außenminister Didier Burkhalter viermal so hoch wie der Zuzug nach Großbritannien.

Kurz nach der Abstimmung zog die Kommission erste Konsequenzen und setzte die Verhandlungen über eine Beteiligung der Schweiz an dem Studentenaustauschprogramm „Erasmus Plus“ und dem milliardenschweren Forschungsprogramm „Horizon 2020“ aus.

Nichtsdestoweniger legte Bern im Februar dieses Jahres eine Gesetzesinitiative vor, die die Einführung von Quoten bis zum Jahr 2017 vorsieht. Konkrete Zahlen gibt es noch nicht. Wer mehr als vier Monate in der Schweiz arbeiten wolle, solle künftig aber eine Arbeitserlaubnis benötigen, erklärte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Zudem will Bern in jedem Einzelfall prüfen, ob es geeignete Schweizer Arbeitskräfte gibt, bevor für Ausländer eine Arbeitserlaubnis ausgestellt wird.

Zweiter Urnengang möglich

Die Union will davon nichts wissen. Im Gegenteil: Brüssel drängt Bern dazu, die Abstimmung zur Zuwanderungsbeschränkung bis Ende 2016 ein zweites Mal durchzuführen – in der Hoffnung, dass ein neuer Urnengang zu einem anderen Ergebnis führen und die Wogen glätten möge. Tatsächlich gibt es in der Schweizer Regierung Überlegungen in diese Richtung, wie „Die Presse“ erfuhr – und zwar aus einem einfachen Grund: Kommt bis Februar 2017 – genau drei Jahre nach der ersten Abstimmung – keine gemeinsame Lösung mit der EU zustande, muss der Schweizer Bundesrat das Abstimmungsergebnis und damit die neuen Verfassungsbestimmungen auf dem Verordnungsweg einführen.

Dieses Szenario aber gilt es aus Schweizer Sicht tunlichst zu vermeiden, käme es doch einer einseitigen Kündigung des Freizügigkeitsabkommens gleich, das ja Teil der bilateralen Verträge zur Regelung der vielfältigen Wirtschaftsbeziehungen mit der EU ist. Kommt es zum Bruch eines dieser Verträge, werden durch Inkrafttreten der „Guillotine-Klausel“ auch alle anderen Verträge nichtig.

EU-Beziehungen erwünscht?

Angesichts der Tatsache, dass die Schweiz drei Viertel ihrer Einfuhren und beinahe zwei Drittel der Ausfuhren mit den Mitgliedstaaten der Union abwickelt und zudem etwa ein Drittel der Arbeitsplätze davon abhängig sind, dürfte diese Option in Bern kaum mehrheitsfähig sein. Deshalb, heißt es hinter vorgehaltener Hand, könnten die Eidgenossen bei einer zweiten Volksabstimmung zur Einwanderung schon bald mit der etwas weiter gefassten Frage konfrontiert werden, ob die bilateralen Beziehungen zur EU weiterhin erwünscht sind oder nicht.(aga)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

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