Wenn ich in Berlin einkaufen gehe. Von Rettich und noch mehr Rettich, und von der Gentrifizierung Kreuzbergs.
Wenn du Rainald Grebe noch nicht kennst, dann wird es höchste Zeit, dass du ihn dir zwecks guter Unterhaltung mal anhörst. In einem seiner Lieder geht es zum Beispiel um mich und meinesgleichen, also 30-jährige, selbstgefällige Ultraindividualisten, die mit ihren Partnern und bepartnerten Freunden bei selbst gemachtem Sushi subtil damit prahlen, welche Länder sie schon bereist haben und warum sie nicht bei Ikea einkaufen, weil: Bei Ikea kaufen sie nun wirklich nicht ein, sicher nicht! „Bis auf den Tisch da, der ist von Ikea, der sieht aber nicht nach Ikea aus.“ Dieses wunderbare Lied heißt folgerichtig „Dreißigjährige Pärchen“, und ganz besonders mag ich den Refrain: „Reich mir mal den Rettich rüber“, den fand ich so passend bundesdeutsch, Rettich, Sushi, deutsche Pärchen, logisch kann ich dir das jedenfalls nicht erklären. So, und vor ein paar Tagen bin ich auch dem Rettichklub beigetreten, ganz jäh und unvorbereitet.
Im Supermarkt kaufe ich ein: Tomaten, Gurken, Käse, Oliven, Sellerie und einmal Rettich. Der Kassier ist ein junger, gut gelaunter Mann, der sich herzlich mit dem jungen, gut gelaunten Mann vor mir unterhält. Der Kassier erzählt, dass er aus Brasilien komme und in Berlin studiere, der Einkäufer erzählt, dass er aus Großbritannien komme und in Berlin Musik mache, und sie haben königlichen Spaß mit ihrem Gespräch, und wie das in Berlin nun einmal so ist, quengelt weder jemand aus der Schlange, noch ruft wer nach einer dritten Kassa, alle verhalten sich wie Absolventen der Disziplinschule. Als ich an die Reihe komme, zieht der brasilianische Student meine Produkte über das Piepsding, aber der Rettich macht ihn äußerst nervös, zuerst starrt er ratlos auf das Gemüse und dann Hilfe suchend auf mich. „Rettich“, sage ich. „Ah!“, ruft er und sucht nach dem Rettichcode. Der Brite, der noch Zeug einpackt, versteht meinen Rettich ebenfalls nicht. „Germans eat the strangest things“, sagt er seinem brasilianischen Neo-Freund. „Hey“, muss ich offenbar mit einer mich selbst überraschenden Vehemenz herumgrölen, „I'm not German!“ Dann starren sie mich an, bemitleidend, enttäuscht, traurig, als hätten sie mich verloren, an die Germans, als hätte ich den Fluss überquert, für immer, auf Nimmerwiedersehen. Ich sag's dir, diese Stadt!
Kiez. Dass in Berlin bereits seit Jahren ein frommer Gentrifizierungsglaube herrscht, ist nicht neu. Es gibt Gebäudespekulationen, ganze Kieze werden umgestaltet, wobei sich dann auch die Bewohnerstruktur neu zusammensetzt. In manchen Gegenden ist die Gentrifizierung sicher positiv, in anderen nicht. Kreuzberg ist derzeit so ein Gentrifizierungsplanschbecken. Aus Kreuzberg ereilt mich folgende Geschichte: Da das Haus, in dem sein Lebensmittelshop untergebracht ist, einen neuen Inhaber hat, muss ein türkischer Greißler seinen Laden (Bizim Bakkal – „Unser Laden“) nach knapp 30 Jahren zusperren. Als die Anrainer davon hören, starten sie eine Bürgerinitiative zur Rettung des Bakkal und organisieren jede Woche eine kleine Demo. Ein Kiez hält zusammen, und zwar alle für alle. Normalerweise hört man ja gegenteilige Geschichten.
diepresse.com/diesetuerken
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2015)