Bürger aus den vom Krieg stark betroffenen Außenbezirken der Donbass-Metropole demonstrierten für eine Einstellung der Kämpfe. Doch ihre Stimmen werden nicht gehört.
Sie wohnen am Stadtrand und haben das Gefühl, dass das Zentrum sie schlicht vergessen hat. Am Montag zogen rund 200 Bürger aus den Außenbezirken von Donezk vor eines der Regierungsgebäude der Donezker Volksrepublik und verlangten eine Aussprache mit Republikschef Alexander Sachartschenko. Als die Behörden nicht reagierten, blockierten die Menschen die zentrale Artjom-Straße. Julia Wadimowna, 41, ist eine der Verzweifelten. „Niemand hört uns zu, niemand nimmt unsere Probleme ernst“, klagt sie. „Niemand beschützt uns.“
Der Krieg in der Ostukraine ist von wechselnder Intensität, doch er hat auch seine Konstanten. Der Bezirk Oktjabrski etwa, in dem Wadimowna und die meisten der anderen Protestierenden leben, liegt seit mehr als einem Jahr unter Beschuss. Er befindet sich am nördlichen Rand der Stadt, in der Nähe des Flughafens. Die Tortur der Bürger begann am 26.Mai 2014, als die ukrainische Armee gegen die Besetzung des Flughafens durch prorussische Kämpfer militärisch vorging. „Seitdem hat es keinen Tag gegeben, an dem es ruhig war“, pflichtet Wadimownas Bekannte Alla Anatoliewna bei. „Ständig werden wir bombardiert, ständig müssen wir uns verstecken.“ Die Separatisten nutzen Stellungen im Bezirk, um gegen Positionen der ukrainischen Armee hinter dem Flughafen vorzugehen. Bei Gefechten wird immer wieder zivile Infrastruktur getroffen: Häuser, Schulen, Kindergärten.
Während am Stadtrand Menschen in Kellern sitzen, ist die Wirklichkeit im Zentrum eine andere. Man könnte fast glauben, Frieden sei wieder im Donbass eingekehrt. Kinder fahren in Elektroautos über den Lenin-Platz, am Ufer des Flusses Kalmius picknicken Bürger im Gras, und im Wasser paddeln Kanufahrer. „Die Leute im Zentrum leben gut, und wir kriegen alles ab. Aber wir sind doch auch Bürger der Stadt!“, empört sich Alla Anatoliewna.
Viele der Anwesenden fordern eine Feuerpause. Die Separatisten sollen ihre schweren Waffen aus dem Wohnbezirk entfernen, damit dieser nicht länger als Zielscheibe für Angriffe dient. Andere befürworten eine Offensive: Die prorussischen Kämpfer sollten die ukrainischen Truppen weiter abdrängen. „Bis in die Stadt Krasnoarmejsk“, mehrere Dutzend Kilometer weiter westlich, ruft ein Mann. „Aber dort leben doch auch Menschen“, entgegnet Julia Wadimowna.
„Schließt euch der Armee an“
Die Aktion, die die Bürger selbst organisierten und die im Internet verbreitet wurde, illustriert die mittlerweile verzweifelte Lage vieler Zivilisten nahe der Frontlinie. Der nach zwei Stunden doch noch erschienene Chef der Donezker Volksrepublik Sachartschenko kann die Menschen kaum beruhigen. „Schließt euch der Armee an, lernt kämpfen“, schlägt der selbst verwundete Republikschef vor, der nur mithilfe von Krücken gehen kann, da sein rechter Fuß eingegipst ist. Doch Frauen schreien ihn an, unterbrechen ihn. Der Unmut steigt weiter, als er eine Einstellung der Kampfhandlungen ausschlägt. „Wir verteidigen uns nur“, sagt er und macht die ukrainische Armee für die Zerstörungen verantwortlich. Doch Durchhalteparolen und Kriegsrhetorik können den Bewohnern nicht ihre Sicherheit zurückgeben. Viele sind nach mehr als einem Jahr der Kämpfe kriegsmüde, und Schuldzuweisungen wirken nicht mehr wie früher.
In diesen Wochen sind an vielen Orten Kämpfe neu entflammt: in der Stadt Awdeewka, die unter ukrainischer Kontrolle ist und eine große Kokerei beherbergt, rund um Gorlowka, im Süden in Schirokino, im Westen in Marinka, weiter östlich im Gebiet Luhansk. Den Berichten der OSZE ist zu entnehmen, dass beide Seiten ihre großkalibrigen Waffen nicht wie im Minsker Abkommen vereinbart aus der Zone um die Frontlinie entfernt haben. Verfügbare Waffen werden bekanntlich genutzt.
Die Separatisten haben mehrmals klargemacht, dass sie sich nicht nur verteidigen, sondern ihren Herrschaftsbereich ausdehnen möchten. Doch die viel beschworene große Sommeroffensive lässt auf sich warten. Unterdessen findet eine kleine Offensive statt: Man versucht, schrittweise Territorium zu erobern. Das Kalkül könnte sein, den Gegner an mehreren Stellen in die Zange zu nehmen, wie das in der Stadt Debaltsewo im Februar der Fall war. Damals schlossen prorussische Kämpfer einen Ring um ukrainische Truppen.
Der Krieg hat sich festgefahren und eingespielt. Großteils läuft er unter der Wahrnehmungsschwelle, ob im Ausland oder im Zentrum von Donezk. Doch jeden Tag gibt es eine Handvoll Opfer: ukrainische Soldaten, prorussische Kämpfer, und immer wieder Zivilisten.
AUF EINEN BLICK
Bei Kämpfen in der Ostukraine sind mindestens zwei Soldaten getötet und 20 weitere verletzt worden. Der Armeeführung zufolge wurden Stellungen der Regierungstruppen in den vergangenen 24 Stunden mehr als 100 Mal von prorussischen Milizen beschossen. Die Separatisten warfen den Regierungstruppen vor, ein Wohngebiet im Westen von Donezk beschossen zu haben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2015)