„Hernalser“: Leben und sterben auf der Baustelle

Beschäftigt sich in ihren Projekten inhaltlich mit gesellschaftspolitischen Themen und künstlerisch mit Schnittstellen von Video, Architektur und Performance: Melanie Hollaus.
Beschäftigt sich in ihren Projekten inhaltlich mit gesellschaftspolitischen Themen und künstlerisch mit Schnittstellen von Video, Architektur und Performance: Melanie Hollaus.Lammerhuber
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In ihrer Dokumentation „Hernalser“ begleitet Regisseurin Melanie Hollaus Protagonisten auf der Suche nach dem richtigen Leben im falschen System.

Am Ende glänzt das fertige Gebäude in seiner goldenen Fassade. Nichts weist auf all den Dreck und Staub während der Bauarbeiten hin, auf den Schweiß der Menschen, der vergossen wurde, um es zu errichten. Zwei Jahre lang begleitete Regisseurin Melanie Hollaus die Entstehung des viel diskutierten Hochhauses (Stichwort „Hernalser Hof“) am Hernalser Gürtel gegenüber der U-Bahn-Station Josefstädter Straße. Herausgekommen ist der Streifen „Hernalser – der Stein denkt mordet liebt“, der Anfang Mai beim Arbeiterfilmfestival in Istanbul Weltpremiere feierte und im Herbst in Wien zu sehen sein wird.

Die Dokumentation mit Spielfilmhandlung begleitet die Arbeiter bei 35 Grad im Sommer und minus 15 Grad im Winter. Bewegungen von Kränen und Baggerarmen offenbaren eine den Maschinen eigene, faszinierende Choreografie. Doch trotz des Staunens über die Technik bleiben die Aufnahmen vor allem eine stille Hymne auf die harte und selten gewürdigte Tätigkeit der Bauarbeiter.

Kulisse für tragische Geschichte

Zwischen den dokumentarischen Aufnahmen der Baustelle tauchen immer wieder Spielfilmszenen auf, die durch einen losen Handlungsstrang miteinander verbunden sind. Die Baustelle dient als Kulisse für die vier Hauptprotagonisten, die alle irgendwie „nach oben“ wollen. Doch (sehr) frei nach Adorno gibt es für keinen der vier ein richtiges Leben im falschen System.

Da ist der Schöngeist Pierrot, der als Dichter und Denker an der ihn umgebenden Leistungsgesellschaft verzweifelt. Am Ende bleibt ihm nur der Schritt in den Wahnsinn. Seine Freundin Marianne weiß mit Pierrots abstrakten Denkfiguren nichts anzufangen und hält es mit Foucault: „Wir leben, lieben und sterben nicht auf einem rechteckigen Blatt Papier.“ Trotz oder wegen der Absage an die Theorie – die Langeweile bleibt ihr treuer Begleiter.

Roland und Corinne, ein Paar, betrügen einander, und beide haben nur eines im Sinn: den jeweils anderen umzubringen. Roland wird dabei Opfer seiner eigenen Niedertracht, als er von einem Schauspieler erkannt wird, dem er einige Szenen zuvor ins Bein geschossen hat. Corinne dagegen scheint als Einzige den Aufstieg zu schaffen, allerdings um den Preis des Verlustes dessen, was man Menschlichkeit nennt. Die Spielfilmszenen sind eine Verbeugung vor Jean-Luc Godard: Nie versucht der Film, dem Zuschauer Realität vorzutäuschen. Leichen atmen, Schauspieler fallen aus ihren Rollen und hinterfragen sich selbst wie auch den Film. Dieser scheint einem stets zuzuflüstern, was Corinne schließlich in einer Schlüsselszene ausspricht: „Komm, lass dich auf mich ein!“

Die „Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Missständen“, wie sie es nennt, war schon immer ein zentrales Thema in Hollaus' Projekten. Etwa in den Dokumentarfilmen „Bocksiedlung“ (2012) und „Stalingrad“ (2015), in denen es um Stadtrandsiedlungen geht, die von ärmeren, stigmatisierten Bevölkerungsschichten bewohnt werden.

Geboren wurde Hollaus 1980 in Rum in Tirol. Nach der Matura besuchte sie die Schauspielschule Innsbruck, wo sie 2004 ihren Abschluss machte. Neben zahlreichen Theater- und Performanceprojekten begann sie 2005, erste Kurzvideos zu drehen. Seit 2008 arbeitet sie als freischaffende Videokünstlerin und Filmemacherin in Wien und beschäftigt sich insbesondere mit den Schnittstellen von Video, Architektur und Performance.

„Die Motivation, Filme zu machen, entstand durch die Auseinandersetzung mit der Nouvelle Vague und dem italienischen Neorealismus, die sich von der gängigen Filmsprache abwandten, um einerseits gesellschaftskritische Filme zu machen und andererseits neue Ausdrucksformen hervorzubringen“, sagt Hollaus. „Dabei war vor allem die große Freiheit im Umgang mit Bildern und Geschichten faszinierend.“ Wichtiger Wegbegleiter der vergangenen Jahre sei Godard gewesen, der die unterschiedlichen Ebenen (Bild, Musik, Montage, Darsteller) gleichwertig betrachtet und gängige filmische Regeln konsequent missachtet. Mit „Hernalser“ ist ihr die Hommage gelungen.

ZUR PERSON

Experimentalfilm. Melanie Hollaus (www.melaniehollaus.at) wurde in Rum in Tirol geboren und absolvierte die Schauspielschule Innsbruck. Seit 2008 lebt und arbeitet sie als Filmemacherin in Wien und beschäftigt sich insbesondere mit den Schnittstellen von Video, Architektur und Performance. Sie ist Mitbegründerin der Theaterformation KJDT in Wien und der Theaterplattform Das Labor in Innsbruck. Anfang 2015 gründete sie zudem mit Sebastian Brunner die Gruppe unabhängiger Filmemacher (www.gruppeunabhaengigerfilmemacher.at).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2015)

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