Chinas entschlossener Griff nach Riffs und Inseln

Im Südchinesischen Meer prallen die territorialen Ansprüche der Anrainer aufeinander. Die Chinesen preschen vor.

Als im Mai ein P8-A-Überwachungsflugzeug der US-Marine den Luftraum in der Nähe des zu den Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer gehörenden Yongshu-Jiao-Riffs durchquerte, wurde die Besatzung vom chinesischen Militär acht Mal aufgefordert, diesen Bereich zu verlassen. Chinas Außenminister, Wang Yi, sagte, Peking sei „felsenfest entschlossen, seine Souveränität und territoriale Integrität zu schützen“.

US-Verteidigungsminister Ashton Carter antwortete: „Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die USA fliegen, fahren und operieren überall, wo es uns aufgrund des Völkerrechts erlaubt ist, so wie wir das auf der ganzen Welt tun.“ Steht also ein Konflikt zwischen den USA und China im Südchinesischen Meer bevor?

Im Jahr 1995, als ich im Pentagon tätig war, begann China auf dem Meiji-Jiao-Riff Strukturen zu errichten. Dieses Atoll wird von den Philippinen beansprucht und liegt auch viel näher an der philippinischen als an der chinesischen Küste. Die Regierung in Washington gab eine Erklärung ab, wonach die USA hinsichtlich der konkurrierenden Ansprüche von fünf Staaten auf die etwa 750 Felsen, Atolle, Inseln, Inselchen und Riffs der Spratly-Inseln, die ein riesiges Gebiet von 425.000 Quadratkilometern im Südchinesischen Meer umfassen, keine Position einnehmen. Aber die USA drängten die Parteien, den Streit friedlich zu lösen.

Die Neun-Punkte-Linie

Klarer Standpunkt der USA ist allerdings, dass das Südchinesische Meer dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) unterliegt. In diesem Gebiet verlaufen bedeutende Schifffahrtsrouten für Öllieferungen aus dem Nahen Osten und für Containerschiffe aus Europa, und es finden auch routinemäßige Überflüge militärischer und ziviler Flugzeuge statt. Zur Unterstützung seiner territorialen Ansprüche verweist China auf eine aus der nationalistischen Periode stammenden Karte – die sogenannte Neun-Punkte-Linie –, derzufolge sich chinesisches Territorium fast tausend Meilen südlich des chinesischen Festlands erstreckt und in manchen Fällen bis auf 40 oder 50 Meilen an die Küsten von Staaten wie Vietnam, Malaysia, Brunei und den Philippinen heranreicht.

Diese Staaten wiederum berufen sich auf die im Seerechtsübereinkommen festgelegten ausschließlichen Wirtschaftszonen, die sich über 200 Meilen vor den Küsten erstrecken.

Als der Streit um das Meiji-Jiao-Riff entbrannte, verabsäumten es die chinesischen Vertreter, die Bedeutung der Neun-Punkte-Linie zu erklären. Als man sie dazu gedrängt hat, haben sie eingeräumt, dass die Punkte Gebiete ausweisen, auf die China Souveränitätsansprüche stellt. Gleichzeitig stimmten sie zu, dass das Südchinesische Meer kein chinesisches Binnengewässer sei und den Regeln des UN-Übereinkommens unterliege. Auf dieser Grundlage vermieden die USA und China über beinahe zwei Jahrzehnte einen Konflikt zu dieser Frage.

Mit seinen maritimen Nachbarn jedoch ging China Konflikten nicht aus dem Weg. Obwohl man sich zu einem 2002 vom Verband Südostasiatischer Staaten verhandelten Verhaltenskodex bekannte, nutzte China seine überlegene Militärmacht bei Streitigkeiten mit den Philippinen und Vietnam.

2012 vertrieben chinesische Patrouillenschiffe philippinische Fischerboote am Scarborough-Riff vor der Küste der Philippinen. Die philippinische Regierung wandte sich an den Internationalen Seegerichtshof, der aus Sicht Chinas aber dafür nicht zuständig ist. Nachdem China in Gewässern, die von Vietnam beansprucht werden, eine Ölbohrinsel errichtet hatte, gerieten 2014 Schiffe aus den beiden Ländern in eine Auseinandersetzung, bei der man einander rammte und mit Wasserkanonen beschoss. Daraufhin kam es in Vietnam zu anti-chinesischen Ausschreitungen.

Landebahn auf einem Riff

Die kleineren Staaten der Region suchten amerikanische Unterstützung. Doch die USA blieben darauf bedacht, nicht in konkurrierende Territorialansprüche hineingezogen zu werden. Außerdem mussten sich die USA im Hinblick auf ihre Beziehungen mit China auf umfassendere Probleme konzentrieren.

Das änderte sich, als China aktiv damit begann, Riffe mit Sand aufzuschütten und an mindestens fünf Orten Inseln zu erbauen. Anfang dieses Jahres haben Beobachter Bilder eines Bauwerks veröffentlicht, bei dem es sich vermutlich um eine 3000 Meter lange Landebahn am Yongshu-Jiao-Riff handelt.

Die USA argumentieren, dass sich ausländische Schiffe und Flugzeuge gemäß des Seerechtsübereinkommens außerhalb einer Zwölf-Meilen-Hoheitszone frei bewegen dürfen, während China meint, seine 200-Meilen-Wirtschaftszone dürfe nur mit seiner Genehmigung durchquert werden. Würde China für alle von ihm besetzten Gebiete derartige Zonen beanspruchen, könnte es den größten Teil des Südchinesischen Meers abriegeln.

Chinas neue Sandmauer

Ein offizieller Vertreter hat gemeint, China versuche „auf dem Boden Fakten zu schaffen“, die Admiral Harry Harris, der Kommandeur der US-Pazifikflotte, als „neue chinesische Sandmauer“ bezeichnet hat.

China erklärte korrekterweise, dass es sein souveränes Recht sei, Aufschüttungen vorzunehmen und dass man nur dem Beispiel der Nachbarn folge, die zur Untermauerung ihrer Ansprüche ebenfalls Strukturen errichten würden. Doch der Verdacht der USA erhärtete sich, als die chinesische Regierung 2013 im Zuge ihres Territorialkonflikts mit Japan um die Senkaku-Inseln ohne vorherige Warnung eine Luftraumüberwachungszone einrichtete. Als Reaktion darauf durchquerten zwei amerikanische B-52-Bomber diese nicht anerkannte Zone. Damit wurde ein Präzedenzfall für den jüngsten Aufklärungsflug der Marine geschaffen.

Diese Antwort der USA war dazu gedacht, China daran zu hindern, vollendete Tatsachen zu schaffen, aufgrund derer man große Teile des Südchinesischen Meers abgeriegelt hätte. Dennoch ist die ursprüngliche amerikanische Politik, nicht in Territorialkonflikte hineingezogen zu werden, weiterhin sinnvoll.

Basis für Verhandlungen

Die Ironie der Situation besteht darin: Der US-Senat hat es verabsäumt, das Seerechtsübereinkommen zu ratifizieren. Aus diesem Grund ist es den USA nicht möglich, China vor dem internationalen Seegerichtshof aufgrund der Aufschüttung von Riffen und der Schaffung von Wirtschaftszonen zu belangen, die dem Recht auf freie Passage – einem Hauptinteresse der USA – entgegenstehen könnten.

Da aber China dieses Seerechtsübereinkommen ratifiziert hat und die USA es als internationales Gewohnheitsrecht respektieren, besteht eine Basis für ernsthafte direkte Verhandlungen zur Klärung der missverständlichen Neun-Punkte Linie und der Erhaltung der Freiheit der Meere. Mit umsichtig gestalteter Diplomatie kann und soll ein Konflikt zwischen den USA und China im Südchinesischen Meer vermieden werden.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Copyright: Project Syndicate, 2015.

DER AUTOR


E-Mails an:debatte@diepresse.com

Joseph S. Nye (geboren 1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993–94) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994–95). Nye ist Vorsitzender des Global Agenda Council on the Future of Government des Weltwirtschaftsforums. Soeben ist sein neues Buch erschienen: „Is the American Century Over?“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2015)

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