Kollektive Trauer: Was die Grazer Seele jetzt benötigt

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Der Notfallpsychologe Roland Bugram erklärt, warum Graz nach der Amokfahrt zusammengerückt ist und in welcher Phase der Trauer sich die Stadt gerade befindet.

Wien. So unpassend das Wort „richtig“ in diesem Zusammenhang scheinen mag: Graz hat nach der Amokfahrt, bei der drei Menschen getötet und 36 verletzt wurden, alles richtig gemacht. „Mir wäre nichts aufgefallen, was man hätte besser machen können“, sagt dazu der Grazer Notfallpsychologe Roland Bugram. So habe die Stadt Graz rasch und professionell reagiert und sofort Kriseninterventionsteams ausgeschickt, die auf die Betroffenen zugehen. Aber auch die Bürger selbst haben richtig reagiert und sind zusammengerückt.

Graz – und generell die Steiermark – kann durch das Grubenunglück in Lassing (bei dem 1998 zehn Menschen ums Leben kamen) auf Erfahrungen zurückgreifen, um mit solchen Katastrophen umzugehen, meint der Psychologe. Er sieht in Hinblick auf die kollektive Trauer durchaus Parallelen zu Naturkatastrophen. „Es trifft nicht nur eine spezielle Population, sondern vom Kind bis zu den älteren Personen die gesamte Gesellschaft. Es ist ein generationenübergreifendes Ereignis, ein Ereignis gegen die Grazer Bürger“, sagt er. Diese kollektive Betroffenheit führe automatisch dazu, dass man zusammenrücke.

Hinzu komme, dass mit dem Hauptplatz und der Herrengasse das „Herzstück von Graz“ getroffen wurde. „Es gibt eine besonders hohe Identifikation, weil es so zentral ist. Auch dass der Bürgermeister vor Ort war, führt zu noch mehr Identifikation“, so Bugram.

30 Prozent verkraften es nicht

Aus Erfahrung mit Naturkatastrophen oder Attentaten wisse man, dass 70 Prozent der „am Rande Betroffenen“ (etwa Anrainer oder Passanten) ein solches Ereignis relativ rasch verarbeiten. Der Rest, also 30 Prozent, kann so etwas nur schwer verkraften. Bei ihnen kann es zu posttraumatischen Belastungsstörungen kommen.

Generell unterscheiden sich die kollektive Trauer einer Stadt und deren Bewältigungsmuster nicht von jenen einer Einzelperson. Laut Bugram gibt es nach einem derart dramatischen Ereignis drei Phasen. In den ersten 72 Stunden handelt es sich um die Orientierungsphase. Dabei gehe es neben der Frage nach dem Warum darum, sich einen Überblick zu verschaffen: Was ist passiert, wer wurde verletzt, wie viele getötet? Diese Phase hält rund drei Tage an.

Zeit der Unruhe

Danach kommt die Bewältigungs- oder Verarbeitungsphase. „Dabei kommt es darauf an, alles nachzubesprechen, zu diskutieren, zu reden, aber auch zuzuhören. Das verhindert, dass das Ereignis in den Tiefen unseres Gehirns bleibt, wenn man so will“, erklärt Bugram. In dieser Zeit kann es auch zu Unruhen kommen – bei Menschen genauso wie bei einer Stadt. „Unruhe, Nervosität, Schlaflosigkeit, Wut, Trauer, Weinerlichkeit, Depression. All das kann auch die Stadt treffen. Es ist wichtig, dass man der Stadt Graz das auch erlaubt. Das ist gut für die Seele des Einzelnen, aber auch die einer Stadt.“ Diese Phase hält meist drei Wochen an. Erst danach gehe es darum, von der Trauer in die Realität zu wechseln. „Das wird meistens mit einem Ritual gemacht, einer Feierlichkeit, einem Gottesdienst oder dem Aufstellen eines Denkmals.“

Derzeit dürfte sich Graz gerade am Anfang der Verarbeitungsphase befinden. Es wird gesprochen, diskutiert und wohl auch die Frage nach dem Warum gestellt. Die will und kann auch Bugram nicht beantworten. Nur so viel: Generell habe sich die Gesellschaft in den letzten Jahren dahin entwickelt, dass psychisch kranke Menschen nicht mehr weggesperrt, sondern vermehrt ambulant behandelt werden. „Damit helfen wir sehr vielen Menschen. Es bringt aber auch die minimale Gefahr mit sich, dass ein kleiner Prozentsatz durchbricht.“

Zur Person

Roland Bugram ist klinischer Psychologe, Gesundheitspsychologe, Notfallpsychologe, Militärpsychologe sowie gerichtlich zertifizierter Sachverständiger. Er lebt und arbeitet in Graz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2015)

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