Warum Ungarn sich vor Flüchtlingen fürchtet

Viktor Orbán
Viktor Orbán(c) APA/EPA/ETIENNE LAURENT (ETIENNE LAURENT)
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Im Asylstreit mit Österreich und der EU rudert die Regierung zurück. In der Sache bleibt sie hart und errichtet einen Zaun an der Grenze zu Serbien.

Budapest. Die Regierung von Viktor Orbán lässt sich von der scharfen in- und ausländischen Kritik an ihrer schonungslosen Einwanderungspolitik offenbar nicht beirren. Am gestrigen Mittwoch kündigte Außenminister Péter Szijjártó nach einer Regierungssitzung an, dass Ungarn „in allen Grenzabschnitten“, bei denen das Land der illegalen Einwanderung nicht Herr werden könne, einen Grenzzaun errichten werde.

Bereits in der Vorwoche hat die Regierung Orbán angekündigt, entlang der rund 175 Kilometer langen Grenze zwischen Ungarn und dem südlichen Nachbarland Serbien einen vier Meter hohen Stacheldrahtzaun zu Abwehr der illegalen Migranten aufzustellen. Außenminister Szijjártó wies gestern darauf hin, dass von den etwa 61.000 illegalen Einwanderern, die heuer in Ungarn aufgegriffen worden seien, 60.922 Personen die Grenze zu Serbien überschritten hätten. Deshalb werde die Regierung umgehend 6,5 Milliarden Forint (mehr als 20 Millionen Euro) bereitstellen, um die ungarisch-serbische Grenze frühestmöglich dichtzumachen.

Szijjártó stritt am Mittwoch ab, dass er die Dublin-III-Verordnung, sprich die Rücknahme von illegalen Flüchtlingen aus anderen EU-Staaten, außer Kraft gesetzt habe. Ungarns Regierungssprecher Kovács hatte am Vortag gegenüber der „Presse“ ausdrücklich von „Suspendierung“ gesprochen.

Justizminister nach Brüssel

Der Außenminister betonte jedoch am Mittwoch, Ungarn halte seine EU-Verpflichtungen „restlos“ ein. Gleichwohl ließ Szijjártó durchblicken, dass der Regierung die Dublin-III-Verordnung gegen den Strich geht. Die Regierung Orbán sei informiert worden, dass Österreich und zehn weitere EU-Länder illegale Migranten wieder nach Ungarn abschieben wollten. „Für uns ist das inakzeptabel“, polterte Szijjártó. Er verwies darauf, dass diese Migranten zuerst in Griechenland EU-Territorium betreten hätten, deshalb seien sie auch dorthin zurückzuschicken. Bei ihrer gestrigen Sitzung beschloss die Regierung Orbán zudem, Justizminister László Trócsányi „unverzüglich“ nach Brüssel zu schicken, um die Bedenken Ungarns bezüglich der Dublin-III-Verordnung bei der EU-Kommission zu deponieren.

Dass die Maßnahmen der Regierung Orbán gegen die illegale Einwanderung gleichsam an Panik grenzen, kommt nicht von ungefähr. Laut der Europäischen Agentur für den Schutz der EU-Außengrenzen, Frontex, erfolgten in Ungarn in diesem Jahr bisher die meisten illegalen Grenzübertritte. Im Zeitraum von Jänner bis Mai waren es 50.430. Zum Vergleich: In Griechenland lag die Zahl illegaler Grenzübertritte im gleichen Zeitraum bei 48.000, in Italien bei 47.000.

Mehr noch, im ersten Quartal dieses Jahres zählte Eurostat im gesamten EU-Raum 185.000 Asylanträge, wovon 18 Prozent auf Ungarn entfielen, das in dieser Statistik hinter Deutschland auf dem zweiten Platz rangiert. Auf jeweils eine Million Einwohner entfielen in Ungarn mit Abstand die meisten Asylbewerber (3320 Personen). Dahinter folgt Schweden mit 1180 Asylanträgen.

Ungarns Flüchtlingszentren sind heillos überfordert. Die beiden größten Lager, Debrecen (Ostungarn) und Bicske (Zentralungarn), kommen zusammen auf eine Kapazität von knapp über tausend Flüchtlingen. Der bei der Regierungspartei Fidesz zuständige Abgeordnete für Einwanderungspolitik, László Pósán, zeichnete von der Situation im Umkreis des Flüchtlingslagers in Debrecen denn auch ein dramatisches Bild.

Abgeordneter wettert gegen Nigerianer

Pósán fragte provokant: Welche Eltern würden sich schon darüber freuen, wenn „sechs Schwarzafrikaner mit drohender Geste und einschüchterndem Ton“ ihr aus der Schule heimfahrendes Kind im Bus umstellen würden? Wie der Fidesz-Abgeordnete sagte, kämen solche Fälle in der Nähe ungarischer Flüchtlingslager häufig vor. In Debrecen etwa sei ein ungarischer Familienvater von drei nigerianischen Männern verprügelt worden, zwei algerische Männer wiederum hätten mit Messern bewaffnet eine Schülerin ausgeraubt. Posán wies darauf hin, dass in Ungarn die Zahl der illegalen Zuwanderer in den vergangenen Jahren explodiert sei. Während es dieses Jahr bislang rund 61.000 illegale Grenzübertritte gab, waren es im gesamten Jahr 2014 rund 42.000. Vor zwei Jahren belief sich ihre Zahl lediglich auf 2000.

Um der ungarischen Gesellschaft die Dramatik der Flüchtlingssituation deutlich zu machen, initiierte die Regierung Orbán in den vergangenen Wochen nicht nur eine umstrittene Volksbefragung („Nationale Konsultation“) zum Thema „Einwanderung und Terrorismus“. Auch startete sie eine noch strittigere Plakatkampagne, bei der die Einwanderer in ungarischer Sprache und in Duzform aufgefordert werden, die ungarischen Gesetze zu respektieren und den Magyaren ihre Arbeit nicht wegzunehmen.

Die oppositionellen Sozialisten (MSZP), die zwischen 2002 und 2010 am Ruder waren, reagierten auf den geplanten Bau eines Grenzzauns zu Serbien aktionistisch. Sie umgaben den Hauptsitz des Fidesz mit einem Drahtzaun, gekoppelt mit der Botschaft, die Initiatoren der „Hetzkampagne gegen die Einwanderer“ gehörten „hinter Gitter“. Für die MSZP sei ein Land verloren, das Mauern errichte und sich selbst in ein Ghetto sperre. Die Einwanderung sei ein vom Fidesz kreiertes „Scheinproblem“, das wirkliche Problem für Ungarn sei vielmehr die Auswanderung. Unter der Regierung Orbán wanderten hunderttausende Ungarn in den Westen aus, so die MSZP.

AUF EINEN BLICK

Ungarns Regierungssprecher Kovács gab am Dienstag gegenüber der „Presse“ öffentlich bekannt, dass sein Land die sogenannte Dublin-III-Verordnung einseitig aussetze und auf unbestimmte Zeit keine Flüchtlinge mehr zurücknehme. Die Dublin-Regel sieht vor, dass Asylwerber in jenem EU-Land einen Asylantrag stellen, das sie als Erstes betreten haben. Am Mittwoch dementierte Außenminister Szjjártó: Ungarn werde alle EU-Verpflichtungen achten. Es sei nie die Rede davon gewesen, die Dublin-Verordnung auszusetzen, sondern lediglich von „technischen Problemen“. Überdies müssten die meisten Flüchtlinge nach Griechenland zurückgeschickt werden. Denn großteils wären sie von dort über Serbien nach Ungarn gekommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2015)

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