Flüchtlinge: Europa an der Grenze

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Innenministerin Mikl-Leitner droht mit Kontrollen an der ungarischen Grenze. Sie sieht die EU-Reisefreiheit gefährdet. Ungarn schwächt nach massivem internationalen Druck Rücknahme-Stopp ab.

Wien. Die ungarische Drohung, das Dublin-Verfahren auszusetzen und somit keine Flüchtlinge mehr zurückzunehmen, die über Ungarn in ein anderes EU-Land gereist sind, könnte weitreichende Folgen haben. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner erklärte am Mittwoch: „Wenn man Dublin aushebelt, setzt man auch die Reisefreiheit Europas aufs Spiel.“ Als „letzte Maßnahme“ stellte die Innenministerin die Wiedereinführung von Grenzkontrollen in Aussicht. Noch geht sie aber davon aus, dass es mit Ungarn in den nächsten Tagen zu einer Klärung kommt.

Die ungarische Regierung hatte am Dienstag den Behörden in Wien und in etlichen anderen Ländern angekündigt, dass man „aus technischen Gründen“ die Dublin-Vereinbarung aufheben und keine Flüchtlinge mehr zurücknehmen werde. Regierungssprecher Zoltán Kovács sagte in einem Interview mit der „Presse“, man müsse „ungarische Interessen wahren und unsere Bevölkerung schützen“.

Mehr als zehnmal so viele Asylanträge

Ungarn hat in den vergangenen Monaten einen deutlichen Anstieg an Flüchtlingen verzeichnet. Im ersten Quartal wurden 32.810 Asylanträge gestellt, im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es noch 2455. Die Kapazitäten seien erschöpft, man könne unmöglich noch zehntausende Dublin-Fälle aufnehmen. Das wäre aber notwendig, wenn die Dublin-Regeln eingehalten werden, wonach jener europäische Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig ist, den der Asylwerber als Erstes betreten hat.

Außenminister Sebastian Kurz kritisierte das Vorgehen Ungarns als „inakzeptabel“ und kündigte seinem ungarischen Amtskollegen Péter Szijjártó in einem Telefongespräch „negative Auswirkungen“ an. „Das kann Österreich nicht tolerieren“, so Kurz. Innenministerin Mikl-Leitner forderte eine sofortige Reaktion der EU-Kommission und die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens, sollte Budapest seine Haltung nicht ändern. Zumindest die Reaktion kam prompt: Die EU-Kommission forderte Ungarn auf, sich an die Gesetze zu halten. „Getroffene Vereinbarungen müssen respektiert werden“, sagte die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Kristalina Georgiewa.

Ungarn unter Druck

Die Kritik kam nicht nur aus Österreich: Auch die deutsche Regierung hat den ungarischen Botschafter zu Gesprächen über den Umgang des Landes mit Flüchtlingen gebeten. Der massive internationale Druck zeigte Wirkung, Ungarn ruderte im Lauf des Mittwochs zurück. EU-Botschafter Peter Görkös wollte den Aufnahmestopp als „dringende Bitte“ an die anderen EU-Staaten verstanden wissen. „Ungarn hat keine rechtswirksame Entscheidung zur Suspendierung irgendwelcher Elemente des Dublin-Systems getroffen.“ Auch Außenminister Szijjártó erklärte bei einer Pressekonferenz in Budapest, Ungarn halte alle Rechtsnormen der EU ein und arbeite daran, die Kapazitätsprobleme zu lösen. Er wies aber darauf hin, dass heuer schon 61.000 illegale Einwanderer nach Ungarn gekommen seien, davon fast alle über die serbische Grenze.

Keine Flüchtlinge nach Griechenland

Ungarn pocht darauf, bei einem Teil der Schengen-Verfahren gar nicht zuständig zu sein. Regierungschef Victor Orbán erklärte am Mittwoch in einer Regierungserklärung, Ungarn sei „nicht damit einverstanden“, dass Österreich und andere EU-Länder eine große Zahl an Flüchtlingen nach Ungarn zurückschicken wollen. Denn viele illegale Einwanderer hätten das EU-Territorium nicht erstmals in Ungarn, sondern in Griechenland betreten und müssten deshalb auch dorthin zurück. Die Regierung wies den Justizminister an, umgehend Verhandlungen mit der EU-Kommission zum Thema zu beginnen.

Für Österreich bedeutet es einen wesentlichen Unterschied, ob Flüchtlinge aus Ungarn oder aus Griechenland kommen: Abschiebungen nach Griechenland gibt es nämlich keine, da dort die Versorgung der Asylwerber nicht gesichert ist. Letztlich geht es um eine Beweisfrage – und darum, welches Land Asylwerber auch ordnungsgemäß registriert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2015)

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