Internationale Initiative. Auf der ganzen Welt packen Leute zu, um ihr Umfeld zu verbessern. Besonders auch in Städten: Von Gärten und Märkten bis hin zu besetzten Fabriken machen sich Bürger ihre Viertel zu Eigen.
Selbst Dinge in die Hand zu nehmen bedarf oft großer Überwindung: Die Angst vor zu viel Aufwand, vor Abweisung, vor Misserfolg dominiert manchmal die Gedanken. Doch Sachen, die im kleinen, eigenen Umfeld beginnen, werden häufig zu großen Projekten, die viele Menschen betreffen – und die Dinge nachhaltig verändern.
Stadtbewohner und ihre Gemeinschaften auf der ganzen Welt zeigen, wie erfolgreich man sich für eine Sache einsetzen kann: Sie gründen Gärten, pflanzen ihr eigenes Obst und Gemüse an, nutzen Leerstand, möbeln alte Gebäude auf. Ihre Initiativen werden oft von größeren, von Institutionen getragenen Projekten überschattet, von Ideen, die Stadtregierungen und Architekturbüros in die Welt setzen. Dabei liegt der Zauber oft im Selbermachen, im Entdecken, was es denn ist, was einen stört, und dem Herausfinden, wie man es besser machen könnte.
Bürger in Städten weltweit machen genau das – egal, woher sie kommen, ob sie in einer Mietwohnung oder einer Wellblechhütte leben. Sie wollen die Sache selbst in die Hand nehmen. Sie setzen sich zusammen und reden über ihre Pläne. Und das Wichtigste: Sie reden nicht nur, sie tun danach auch etwas.
Im Grün der Stadt
Das klassische Beispiel für Selbstorganisation: Urban Farming, Gärten in der Stadt, die von Bürgern bewirtschaftet werden. Die Praxis existiert, seit es Städte gibt. Das Anbauen von eigenem Gemüse und Obst gibt den urbanen Gärtnern ein Stück Freiheit, Selbstständigkeit und Stadt zurück. Berühmt sind etwa die mobilen Prinzessinnengärten in Berlin: 2009 räumten Bürger zwei Tonnen Müll vom Moritzplatz in Kreuzberg, der davor über 60 Jahre lang brachgelegen war. Seit damals blühen die 6000 Quadratmeter des Platzes. Falls eine Umnutzung des Geländes ansteht, werden die Pflanzenkisten einfach gepackt und umgesiedelt.
Eine britische Spezialität ist Urban Farming mit Tieren. Auf der Mudchute Park and Farm in London leben Schafe, Kühe, Lamas – umgeben von den Hochhäusern des East End. Die Farm gilt als Älteste ihrer Art: 1977 entstand sie aus einer mehrjährigen Kampagne von Anrainern, die einen Fleck verwildertes, lieb gewonnenes Land schützen wollten – anstelle einer Hochhaussiedlung entstand in Mudchute ein People's Park.
Auf dem Marktplatz
Den Lebensmittelpunkt Kreuzbergs nennen die Verantwortlichen die Markthalle IX in Berlin. 1891 als Eisenbahnmarkthalle eröffnet, war die Halle mit ihren vielen kleinen Ständen stets der Platz zum Einkaufen, aber auch zum Treffen und Plaudern. Nachdem in den 1970er-Jahren viele Standler abzogen, weil sie mit den angrenzenden Discountern nicht mithalten konnten, hat sich 2009 eine Gruppe von Anwohnern zusammengesetzt, die die Marktstände vermisst hat – sie haben die alte Markthalle als Markthalle IX neu belebt und so ihren Umbau zu einem Einkaufszentrum verhindert. Heute wird die Halle als Wochenmarkt betrieben, dazu kommen Themenmärkte wie Street Food, Kochkurse, Schaustände und -küchen. Besonders regionale Erzeuger erhalten dabei eine Plattform („nicht ganz so streng ökologisch, eine Halle für alle eben“, wie es in der Beschreibung heißt) – ein Nachbarschaftsprojekt, das neben neuer Nutzung und Gemeinschaft auch Arbeitsplätze schafft.
In der Not
Während die einen Selbstorganisation in der Stadt als Hobby der Jungen und Hippen betrachten, passiert sie andernorts, weil es nicht anders geht: In Detroit, der verlassenen Industriestadt im Nordosten der USA, bringt Urban Farming Nahrungsmittel für Stadtbewohner, die sonst nur Fast Food an der Tankstelle kaufen können. Im neuseeländischen Christchurch haben die Bürger nach dem verheerenden Erdbeben 2011 begonnen, ihre zerstörte Stadt neu zu beleben: Das Kunstmuseum stellt Graffiti auf Hauswänden aus, die Kathedrale ist aus Pappkarton, in Frachtcontainern gibt es Klubs und Bars, Engagierte begrünen die Lücken der Häuser. In Rio de Janeiro hat Mauro Quintanilha, ein Bewohner der Favela Vidigal, der für Jahre neben einer stinkenden Müllhalde gelebt hatte, begonnen, den 16-Tonnen-Müllberg wegzuräumen – heute ist die alte Deponie ein Park, aus weggeworfenen Autoreifen oder Plastiktaschen wurden Gartenmöbel oder Pflanzenkübel.
Im Viertel Piedrabuena in Buenos Aireshaben drei Burschen im verlassenen Lager eines Theaters ein Kulturzentrum gegründet, dass den Nachbarn Kino, Garten, Wohnzimmer ist – und, bei einer Arbeitslosigkeit von mehr als der Hälfte der Bewohner des Viertels, vor allem Identifikation stiftet.
Aus Protest
Der Hafen von Hamburg: weltberühmt, das Panorama mit den Kränen und Kähnen auf der Norderelbe oft fotografiert. Direkt hinter dem Fischmarkt von St. Pauli liegt heute ein Park – doch wäre es nach den ursprünglichen Plänen gegangen, stünde dort ein weiterer Büro- und Wohnkomplex. 1994 hatten sich die Anwohner der Viertel St. Pauli und Altona das erste Mal gegen die Bebauung ausgesprochen; daraus entstand eine Nachbarschaftsinitiative, die den ersten öffentlichen Park für das dicht bebaute Quartier am Hafen forderte. Nicht nur Nachbarn, auch Schulkinder und Künstler haben ihre Ideen für den Park eingereicht und nannten ihr Projekt Park Fiction – der Name blieb, der Park kam, nach den Entwürfen der Bürger.
Eine andere Freifläche haben die Berliner für sich erobert: Nach dem Betriebsende des Flughafens Tempelhof im Jahr 2008 wurde das riesige Flugfeld nicht nur Erholungsort und freier Sportplatz, sondern Zentrum einer Debatte um die Nachnutzung. Schon 2009 haben Demonstranten das Areal besetzt, um eine private Nutzung zu verhindern. 2014 haben die Berliner Bürger gegen eine weitere Bebauung des Feldes gestimmt – ganz im Sinn der Aktivisten.
Mit den Nachbarn
Bauplätze in London sind begehrt – das war schon 1977 so, als ein Investor auf einem verlassenen Grundstück am (damals noch recht beschaulichen) Südufer der Themse das höchste Hotel Europas aufziehen wollte. Anrainer gründeten die Coin Street Action Group und reichten ihre eigenen Pläne ein – 1984 übernahmen sie das Stück Land als gemeinnütziges Unternehmen, planen und bebauen es.
Mieter in zwei ganz unterschiedlichen Städten kämpften mit demselben Umstand: Sowohl die Bewohner der Falkenried-Terrassen in Hamburg als auch des Quartiers El Barrio in Ostharlem in New York mussten miterleben, wie die Eigentümer die Wohnungen verfallen ließen – um neue, teurere Apartments an der Stelle bauen zu können. Beide Mieterinitiativen haben es geschafft, gegen die Vermieter vorzugehen. In New York entstand dabei eine Hilfe-zur-Selbsthilfe-Gruppe (Movement for Justice in El Barrio), in Hamburg eine Mietergenossenschaft.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2015)