Liessmann: "Die Zukunft ist überbewertet"

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Wir können die Gegenwart nicht ertragen und deshalb die Zukunft nicht erwarten, sagt der an der Universität Wien lehrende Philosoph Konrad Paul Liessmann. Ein Befund.

Die Presse: „Zukunft“– welche Bedeutung hat dieser Begriff für die Philosophie?

Konrad Paul Liessmann: Für die Philosophie ist Zukunft ein ganz zentraler Begriff, weil Zukunft eine Zeitdimension ist, und Zeit ist eine der entscheidenden Kategorien, über die die Philosophie nachgedacht hat. Schon Augustinus beschrieb in seiner berühmten Reflexion über die Zeit diese drei Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er sagte als Erster, dass diese drei Dimensionen Ausdruck unserer Innerlichkeit sind.

Was meint Augustinus damit?

Was ist Vergangenheit? Vergangenheit ist nichts anderes als Erinnerung. Was ist Gegenwärtigkeit? Nichts anderes als bewusstes Erleben unserer Unmittelbarkeit. Was ist Zukunft? Nichts anderes als Erwartung und Hoffnung.

Oder Angst.

Oder auch Angst, je nachdem, wie man die Zukunft besetzt. Die Frage, die uns an der Zukunft ja am meisten interessiert, ist die der psychischen Einstellung. Denken wir uns Zukunft als Fortsetzung des Gegenwärtigen oder als Einbruch des Unerwarteten?

Wie entscheidend ist unser Verhältnis zur Zukunft für das Erleben der Gegenwart?

1500 Jahre nach Augustinus hat sich der Philosoph Søren Kierkegaard jene Frage gestellt, die für unser Verhältnis zur Zukunft die entscheidende ist: Wer unter den Menschen ist der unglücklichste?

Kierkegaards Antwort?

Am unglücklichsten sind diejenigen, die entweder nur noch in der Vergangenheit, nur noch aus der Erinnerung leben oder nur in der Zukunft, also in der Hoffnung. Glück bedeutete die Erfahrung der Unmittelbarkeit der Gegenwart.

Jemand, der alles von der Zukunft erwartet, alles von ihr befürchtet, ist also prinzipiell unglücklich?

Ja, und wir sind eine Gesellschaft, die alles von der Zukunft erwartet. Das Konzept der Moderne besteht darin: Die Gegenwart ist vorläufig und kann jederzeit von der Zukunft überboten werden. Was uns wirklich interessiert, ist ja nicht das, was wir jetzt erleben. Die Frage, die wir uns und anderen stellen, ist doch immer: Was kommt als Nächstes?

Von dieser (Neu-)Gier lebt auch die gesamte Prognosekultur in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

Man muss sich einmal überlegen, was das für eine Form von Selbstverachtung ist, wenn man sich immer sagt: Das, was ich jetzt mache, ist eigentlich vollkommen bedeutungslos, bestenfalls vorläufig, immer überbietbar. Das wird uns auch durch die Kurzlebigkeit unserer Produkte demonstriert. Ein Krieger im Mittelalter, der sich von einem Schmied sein Schwert anfertigen ließ, wusste, noch seine Enkel werden es benutzen können. Wer heute ein Handy kauft, das Schwert und die wirksamste Waffe unserer Zeit, weiß, dass es in Kürze veraltet und bedeutungslos sein wird. Wir leben immer schon in der Haltung hin auf das Nächste. Das hat zum einen eine unglaubliche Dynamik und Offenheit, zum anderen eine dauernde Dementierung dessen, was wir gerade tun.


„Was hat denn die Nachwelt für mich getan? Nichts! Gut, das Nämliche tu' ich für sie!“, lässt Johann Nepomuk Nestroy eine seiner Bühnenfiguren sagen. Interessiert uns Zukunft nur insoweit, wie wir sie selbst erleben werden?

Ich halte es eher für erstaunlich, wie viel Menschen für eine Zeit tun, die sie nicht erleben werden – im Positiven wie im Negativen.

Welches Motiv trägt sie?

Der Mensch ist ein Wesen, das sich selbst überschreiten kann. Wir können über unsere unmittelbare Gegenwärtigkeit hinaus denken. Die Frage ist nur, wie weit. Damit unterscheiden wir uns von allen anderen Lebewesen. Kein Tier plant über einen größeren Zeitraum.

Gleichzeitig haben wir die Fähigkeit, unsere Endlichkeit zu negieren.

Ja, ein 80-Jähriger, der ein Unternehmen gründet, das erst in 15 Jahren Gewinn abwirft, tut so, als würde er ewig leben. Das ist das Erstaunliche, dass mitunter auch sehr alte Menschen immer noch tätig und gierig sind, etwas aufzubauen, das sie selbst nicht mehr erleben werden. Das hat mit dem Wunsch zu tun, dass wir Dinge tun können, die unser irdisches Dasein überdauern sollen.

Es geht uns also um Ruhm?

Der Ruhm ist seit der Antike als entscheidendes Paradigma der Zukunft diskutiert worden. In seiner durch Thukydides überlieferten und selbst berühmt gewordenen Grabrede auf die Gefallenen des Peloponnesischen Krieges hatte Perikles die klassische Ruhmesformel geprägt: „Mitwelt und Nachwelt werden mit Bewunderung auf uns blicken.“ Ich bin überzeugt, dass Ruhm auch eines der entscheidenden Motive künstlerischer Tätigkeit ist: zu wissen, zu glauben und zu hoffen, etwas getan zu haben, was gesehen und gehört wird, wenn ich nicht mehr da bin. Hannah Arendt hat das so großartig formuliert: In der Kunst offenbart sich eine Welt, „in der sterbliche Wesen eine nicht sterbliche Heimat finden“.

Viele Menschen setzen Kinder in die Welt, um eine Spur in die Zukunft zu ziehen.

Kinder haben den Nachteil, dass sie zwar von uns in die Welt gesetzt worden sind, aber sie entwickeln ein Eigenleben. Sie sind nicht so fixiert darauf, Werk zu sein. Faust wird immer Goethes Faust sein, die Tragödie kann sich nicht emanzipieren. Aber jedes Kind kann sagen, mit dem Vater will ich nichts zu tun haben. Kinder sind eine schlechte Investition in die Zukunft, wenn es darum geht, sich selbst in die Zukunft fortzusetzen.

Sie sagten vorhin sinngemäß, wir entwerten die Gegenwart, indem wir nur auf die Zukunft hin leben. Wird die Zukunft von unserer Gesellschaft überbewertet?

Ich glaube schon, dass die Zukunft überbewertet ist. Wir machen uns auch viel zu viel Gedanken und Sorgen um die Zukunft. Aus drei Gründen. Zum einen, und das liegt im Wesen der Zukunft: Sie ist unbekannt. Wir machen unglaubliche Aufwendungen, um herauszufinden, wie die Zukunft sein wird. Vergeblich, denn Menschen, politische Bewegungen, ökonomische Krisen, auch technische Innovationen sind kaum vorhersehbar. Das ist ja das Schöne an der Zukunft; sie ist unerwartet und offen.

Der zweite Grund?

Wir leben unter dem Vorbehalt, unter dem Diktat der Zukunft. Wir müssen immer angeben können, welche Bedeutung unser Handeln für die Zukunft hat. Zum Beispiel: Welche Bildung brauchen wir für die Zukunft? Wer darauf keine Antwort weiß, hat schon verloren.

War das je anders?

Natürlich: In einer Zeit, in der Bildung in der Aneignung von Traditionen bestand und in der Langsamkeit das Lebensgefühl bestimmte. Das, was uns so ungeduldig macht, ist, dass wir Zukunft nicht erwarten können. Wir können nicht Wochen oder Monate warten – so wie noch Goethe –, bis wir von Weimar nach Rom kommen.

Auf einen Brief wochenlang warten zu müssen erscheint unerträglich.

Das ist nicht mehr erträglich. Aber warten können ist eine Erlebnisform von Gegenwärtigkeit, denn warten kann ich nur jetzt.

Wir können nicht warten, weil uns die Gegenwart nicht erträglich ist?

Wir können mit uns in unserer Gegenwärtigkeit nichts mehr anfangen. Das ist eigentlich ein dramatischer Befund. Deswegen flüchten wir uns in die Mobilität, die uns suggeriert, wir hätten schnelleren Zugriff auf die Zukunft.

Und der dritte Aspekt, weshalb wir zu zukunftsorientiert sind?

Wir haben ein unbändiges Bedürfnis danach herauszufinden, was die Zukunft bringen wird. Es gibt diverse Prognoseinstrumente, die allesamt nichts taugen. In Wirklichkeit geht es bei all diesen Versuchen nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart. Wer die Zukunft prognostiziert, sagt ja nicht, so wird es kommen. Er sagt uns, was wir jetzt tun sollen, um etwas zu erreichen oder etwas abzuwehren, was womöglich kommen soll oder aber auch nicht kommen darf.

Das setzt die Annahme voraus, wir könnten die Zukunft gestalten.

Eher nicht. Es setzt die Annahme voraus, Zukunft kommt, wir können darauf nur irgendwie reagieren, um das Schlimmste zu verhindern. Wenn etwa der Rückgang des Wirtschaftswachstums prognostiziert wird, was besagt das? Man könnte sagen: Okay, es geht zurück, dafür wird sich die ökologische Situation entspannen, wir werden weniger verbrauchen und weniger Müll produzieren. Aber so denkt niemand. Stattdessen reagieren wir mit Panik. Prognosen führen zu Hektik in der Gegenwart, und das ist auch der Sinn des Ganzen. Es geht dabei um Verhaltenssteuerung.

Wie meinen Sie das?

Ich halte das für eine Paradoxie: Zukunft ist nichts anderes als das, was unsere Nachkommen machen werden. Gleichzeitig interpretieren wir Zukunft als eine soziale, ökonomische, technologische Zwangsläufigkeit, auf die wir nur noch mehr oder weniger reagieren können. Wer Trends früher erkennt, hat einen Wettbewerbsvorteil. Wer zu spät kommt, der hat die Zukunft versäumt. Das ist eigentlich ein marxistisches Modell: Es gibt Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Wer sie erkennt, hat einen Vorteil.

Man könnte mit Zukunft auch ganz anders umgehen.

Man könnte Nietzscheaner sein und sagen, die lineare Zeit ist eine Fiktion. Das, was menschliche Geschichte ausmacht, sind Zyklen, die ewige Wiederkehr des Gleichen. Alle Krisen, die wir gerade erleben, könnte man als Wiederkunft von etwas schon Dagewesenem interpretieren. Auch Probleme, von der unsere Gesellschaft glaubt, sie noch nie gehabt zu haben, sind Figuren der Wiederholung. Die Debatte über die digitalisierte Kontrollgesellschaft etwa ist nichts anderes als das alte Phantasma eines Ortes, von dem alles überblickt werden kann. Keiner darf unbeobachtet sein. An solchen Modellen, solchen Architekturen arbeitet man seit Langem – denken Sie an das berühmte Panopticon, das Jeremy Bentham entworfen und Michel Foucault interpretiert hat.

Gott entspricht dem Modell. Er sieht alles.

Natürlich. Bei Nietzsche stößt Zarathustra auf den hässlichsten Menschen, der ihm eine Rätselfrage stellt: Was ist die Rache am Zeugen? Zarathustra weiß sofort, dass dieser Mensch Gott getötet hat: „Du ertrugst den nicht, der dich sah – der dich immer und durch und durch sah, du hässlichster Mensch! Du nahmst Rache an diesem Zeugen!“ Angesichts der Zukunftstechnologien, die auf universelle Sichtbarkeit gerichtet sind, sollte man sich an diese Episode erinnern.

Zu welchem Schluss kommen Sie?

Ich bin mir sicher, dass der Mensch vollständige Transparenz nicht erträgt. Es wird wieder Racheakte am Zeugen geben. Terrorakte – auch der Anschlag auf Gott war ein Terrorakt. Und es werden wieder die Hässlichen sein, die das tun. Aber wir waren vorher bei Nietzsche: Eine Deutung der Lehre der ewigen Wiederkunft erlaubt es, diese als eine moralische Maxime zu verstehen.

Und die wäre?

Handle so, dass du wollen kannst, diese Handlung für alle Zeiten zu wiederholen.

ZUR PERSON

Konrad Paul Liessmann wurde 1953 in Villach in Kärnten geboren. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Wien. 2011 wurde er Professor für Methoden der Vermittlung der Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Er ist seit 1996 wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech. Liessmann ist Verfasser zahlreicher Publikationen. Sein jüngstes Buch, „Geisterstunde. Das Verschwinden des Wissens. Eine Streitschrift“, erschien 2014.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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