Zweimal Berlin und zurück

Deutschland ,Berlin, Brandenburger Tor
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Kaum eine Stadt in Europa verändert sich in so rasanter Geschwindigkeit wie die deutsche Hauptstadt. Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich Berlin komplett neu erfunden. Ein persönlicher Streifzug.

Es ist 7.30 Uhr, und Ginger und Fred sind nicht die Einzigen, die gute Laune haben. Auf der Tanzfläche spaziert ein über zwei Meter großer Transvestit mit riesiger Afro-Perücke herum, in blond, und aus irgendeinem Grund hat sich eine junge Frau Schwimmflügel angezogen. Den Club betreten mehrere Männer in engen, bunten Hosen, sie sehen aus wie eine Boygroup aus den 1990er-Jahren. Wer auch immer die Szene von Ginger und Fred, dem kultigen Tanzpaar aus den 1930er-Jahren, zusammengestellt hat, war recht kryptisch unterwegs: Der Tanzschritt, der immer und immer wieder an die Wand projiziert wird, dauert nur einige Sekunden. Es ist heiß, und die Party ist voll im Gange. Eine Frau trägt einen Haarreif mit einem rosaroten Plastik-Muffin drauf, und ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber ich habe jede Menge Glitzer im Gesicht.

Das ist eine Party in Berlin im Jahr 2015. Ich sollte diese Partys eigentlich kennen, habe ich doch in dieser Stadt studiert, und zwar mehrere Jahre lang, bis ich gesagt habe: ab nach Wien. Zehn Jahre später bin ich also wieder hier, in der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg, und eines kann ich sagen: Die Partys sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Diese Veranstaltung hier hat um 6.30 Uhr begonnen – das ist an sich nicht ungewöhnlich für Berlin –, aber zu trinken gibt es Kaffee und Ingwertee, grasgrüne Smoothies, es gibt Snacks, nämlich sogenannte Energyballs aus Nüssen und tropischen Früchten sowie Erdbeerkuchen, alles vegan und aus rohen Zutaten, gluten- und zuckerfrei, wie es auf dem Verkaufsschild heißt. Am Rande der Tanzfläche zeigt ein bärtiger und spindeldürrer Mann in Leggins mit Pfauenfedermuster entspannende Yoga-Übungen, und das zu den lauten Elektro-Beats. Vor zehn Jahren sind um diese Zeit an derselben Stelle Bierflaschen durch die Gegend geflogen. Heute herrscht Rauchverbot und gutes Karma.

Kaum eine andere europäische Hauptstadt verändert sich in so einer rasanten Geschwindigkeit wie Berlin – und das ist nicht nur baulich und architektonisch zu verstehen. Vor zehn Jahren war die deutsche Hauptstadt noch ein Underdog, wer hierher gezogen ist, hat es aus bestimmten Gründen gemacht, persönlich oder geschäftlich, oder weil er eben zufällig hier gestrandet ist. Heute geht man nach Berlin, weil alle nach Berlin gehen. Aus der lädierten Stadt im Norden ist mittlerweile eine standardisierte europäische Metropole geworden, die jetzt fleißig gelernt hat, sich selbst zu vermarkten.

Nun, in Sachen Clubszene hat sich zumindest an der Musik nichts geändert. Die ist noch immer gut (für die, die Elektro mögen), und noch immer laut (auch bei der Morgenparty), und bietet noch immer Stoff für Legenden (wie der Club Berghain). Die Morgenparty ist übrigens ein Import aus London – „Morning Gloryville“ – und wird in vielen Städten veranstaltet, als Party vor Arbeitsbeginn sozusagen.

Besetzte Häuser. Wie die Musikszene waren es die besetzten Häuser, die Berlin zu Berlin gemacht haben. Heute kann man die Anzahl der Besetzungen an einer Hand abzählen, die Szene wurde von verschiedenen Stadtzeitungen vor drei, vier Jahren endgültig für tot erklärt. Im Tacheles zum Beispiel, einem grandiosen Gebäude in Mitte, fanden bis vor einigen Jahren noch Veranstaltungen, Lesungen und Kunstprojekte statt. Jetzt steht das Gebäude leer und verfällt. Anfang des 20.Jahrhunderts war hier ein Kaufhaus untergebracht, später war es ein Nazi-Verwaltungsgebäude, verfiel während der DDR-Zeit und wurde nach der Wende von einem Künstlerkollektiv besetzt. Mit der Zeit fiel das Haus in eine (finanzielle) Lethargie, 2012 erfolgte die endgültige Räumung. Der aktuelle Besitzer ist eine US-amerikanische Investmentfirma. Eine Neunutzung ist geplant.

Insgesamt ist der Immobilienmarkt in Berlin ein heißes Pflaster geworden. Internationale und deutsche Unternehmen kaufen Brachland und Grünflächen ab und werten sie auf. Vor zehn Jahren war die Gegend rund um den neuen Hauptbahnhof ein trauriges Stück Land, jetzt glänzen die Fenster der neuen Gebäude – meist sitzen hier Regierungsleute –, und auch die nunmehr saubere Spree glitzert passend dazu metallisch silber.

In bestimmten Stadtteilen hat eine rasante Gentrifizierung eingesetzt. Gut, Prenzlauer Berg war vor zehn Jahren schon cool, allerdings noch ein wenig ranzig und alternativ. Mittlerweile ist die Bevölkerung recht homogen: junge Familien, Mittelstand, viele, sehr viele Kinder und Babys. Die Mietpreise sind dadurch auch in die Höhe geschnellt, wiewohl Berlin im europäischen Vergleich noch immer günstig ist. Vor zehn Jahren habe ich für mein WG-Zimmer in Prenzlauer Berg 176 Euro bezahlt. Heute wären es mehrere hundert Euro.

Auch Kreuzberg hat sich sehr verändert, ist viel jünger geworden, und auch viel kommerzieller (wie ganz Berlin, eigentlich). Die Adalbertstraße und Oranienstraße, quasi das Kiez-Herzstück, war türkisches Gebiet, nun ist die Gegend viel internationaler, zumal junge Italiener und Spanier hergezogen sind. Ein wildes Pflaster ist Kreuzberg aber geblieben. Ein Samstagabend hier ist die reinste Safari. Die klassische türkische Familie ist unterdessen weiter in den Süden, nach Neukölln, ausgewandert, als die Mietpreise gestiegen sind.
Ewige Baustelle. Wenn sich etwas in Berlin nicht verändert hat, dann sind es die Baustellen, die prägen das Stadtbild mindestens so nachhaltig wie der Fernsehturm. Derzeit wird die Museumsinsel neu gestaltet (Teile des Pergamonmuseums bleiben leider bis 2019 geschlossen), und unter der Erde entsteht die Verlängerung der U5. Der ursprüngliche Plan, die U-Bahn bis zum Flughafen Tegel zu erweitern, wurde inzwischen wieder verworfen. Apropos Flughafen: Grund für eine Magenverstimmung für den gemeinen Berliner.

Der Spatenstich für den neuen, zentralen Flughafen „Willy Brandt“ erfolgte 2006, seither ist so ziemlich alles schiefgelaufen. Dank der Fehlplanung sind die Kosten auf über fünf Milliarden gestiegen, also doppelt so viel wie ursprünglich berechnet. Der Flughafen ist nicht das einzige Fass ohne Boden: die Kosten für die Sanierung der Staatsoper (seit 2010) haben sich ebenfalls fast verdoppelt, auf insgesamt 400 Millionen Euro. Und wie beim Flughafen wird auch hier immer wieder die Neueröffnung verschoben.

Im Zeitplan liegt zumindest der Neubau des Stadtschlosses (die Eröffnung ist für 2019 geplant). Vor zehn Jahren stand hier noch das Staatsgebäude der DDR, der Palast der Republik („Palazzo Prozzo“), aber der asbestverseuchte Klotz wurde gesprengt, genauso wie die DDR, die die vom Krieg zerstörten Schlossreste vor 65 Jahren sprengen ließ. Von der neuen Hohenzollern-Residenz steht nun der Rohbau, und der ist monumental und hässlich. Das Schloss ist nicht unumstritten, wird hier doch ein Symbol des feudalen Zeitalters neu errichtet, aber die ganz scharfen Kritiker scheinen sich beruhigt zu haben. Die Kosten werden mit knapp 600 Millionen Euro angegeben.

Verschuldet ist Berlin noch immer bis über beide Ohren, derzeit sind es rund 62 Milliarden Euro. Mit „Arm aber sexy“ hat der frühere Bürgermeister Klaus Wowereit der Stadt einen passenden Slogan verpasst, und er gilt noch immer. (Übrigens: Den aktuellen Bürgermeister Michael Müller kennen, im Gegensatz zu Wowereit, gefühlte zehn Menschen in der Stadt.) Berlin kann sich verändern, wie es will, es wird irgendwie immer sexy bleiben. Und es hat viel Selbstironie, das muss man der Stadt hoch anrechnen. Berlin war und ist entspannt und verrückt, manchmal komplett übergeschnappt, aber bietet viel Platz für ihre Bewohner, räumlich und emotional.

Und partymäßig. Obwohl ich ja das Berliner Nachtleben niemals so durchstehen könnte wie zur Uni-Zeit. Ich bin älter geworden, im Gegensatz zu Berlin, die Stadt wird lange jung bleiben. So wie die gesunden Leute, die auf der Morning-Gloryville-Party tanzen. Als ich in den Club komme, schnappt mich ein Mädchen und klatscht mir Glitzer ins Gesicht. Ich finde es lustig. Später nicht mehr. Nach fünf Mal waschen glänzen meine Backen noch immer, und ich muss zu einem Termin. Aber was soll's. Berlin wird mir verzeihen, und ich bin bald wieder in Wien.

Unterschätzt, aber bald cool

Der Stadtteil Wedding soll gentrifiziert werden. Hoffentlich überlebt das der »Magendoktor«.

Wedding hat keinen schmeichelhaften Ruf, wird aber unterschätzt. Offenbar steht hier die Gentrifizierung bereits vor der Türe, liegt Wedding doch nahe am Prenzlauer Berg. Wer in der Gegend ist, sollte unbedingt „Zum Magendoktor“ gehen, in eine Kneipe, die angeblich seit 1975 nicht mehr geschlossen hat: 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Ziemlich verraucht und old-school, der ganze Mief der jüngeren Berliner Geschichte hängt hier in der Luft. Zum Essen sollte man ins Shikgoo gehen, ein kleines, koreanisches Lokal, das von einem Österreicher und seiner koreanischen Frau betrieben wird: absolut touristenfreie Zone und die besten asiatischen Speisen überhaupt.

Irgendwie noch türkisch

Kreuzberg ist jung und hip geworden, aber authentisch geblieben. Es gibt viel zu essen.

Türkisch ist nicht mehr die dominante Fremdsprache im Kreuzberger Kiez, nun wird auch auf Italienisch, Spanisch und Griechisch parliert. Die Bevölkerung ist hip und jung wie in Prenzlauer Berg, aber nicht vegan oder glutenallergisch. Türkische Lokale gibt es aber noch sehr viele, etwa das Knofi in der Oranienstraße. Die Betreiberinnen bereiten die besten türkischen Teigtaschen (Manti) außerhalb der Türkei zu. Es gibt in der Gegend auch mehrere kleine Buchläden und eine ganze Reihe von Nachtlokalen. In der legendären Bar Möbel Olfe könnte man einen Drink nehmen, wenn es nicht wieder zu voll wäre. Ansonsten kann man immer noch beim türkischen Greißler Gemüse einkaufen gehen. ?

Wer sich traut, der singt

In den hässlichen, aber schönen Mauerpark in Prenzlauer Berg sollte sich jeder einmal verirren.

Prenzlauer Berg, das ist der Ort, der in jedem Berlin-Reiseführer steht. Trotzdem sollte man sich hierher verirren. Im Mauerpark wird jeden (schönen) Sonntag ein Karaokesingen unter freiem Himmel veranstaltet. Wer sich traut, singt vor mindestens 200 Zuschauern. Überhaupt kann der Mauerpark mit einem ruppigen Charakter aufwarten, war er doch lange Zeit ein Niemandsland zwischen Ost und West. Eine Bürgerinitiative wehrt sich gegen die Verbauung des Parks – und hoffentlich bleibt der hässliche, aber schöne Mauerpark erhalten. Bei Tipps für Restaurants weiß man gar nicht, wo man anfangen soll. In der Lychener Straße zum Beispiel ist gefühlt jedes Land der Welt mit einem Lokal vertreten.

Überall der Hauptmann

Die Altstadt von Köpenick liegt idyllisch auf einer Halbinsel. Dem Hauptmann entkommt man nicht.

Hier kann man nicht glauben, dass man sich in einer großen Stadt befindet: Die Altstadt von Köpenick befindet sich auf einer Halbinsel zwischen Dahme und Müggelspree, zwischen Schrebergarten und Promenadenwegen direkt am Fluss. In Köpenick herrscht gemütliches Kleinstadt-Ambiente mit grob gepflasterten Gehwegen, und es ist praktisch unmöglich, nicht auf den Spuren des Hauptmanns von Köpenick zu wandeln. Er ist überall, auf Werbeplakaten für Cafés, für Eis, für alles. Das Rathaus, das der vermeintliche Hauptmann Anfang des 20. Jahrhunderts besetzte, ist ziemlich beeindruckend, das Schloss Köpenick hingegen weniger. Übrigens gibt es noch Cafés, die preußische Atmosphäre verströmen.

Eine Tour durch die Platte

Marzahn ist nicht uninteressant. Es empfiehlt sich eine Fahrradtour tief in den Osten hinein.

Berlin, das ist auch Plattenbau. Um das sozialistische Wohnen näher kennenzulernen, empfiehlt sich eine Fahrradtour vom Alexanderplatz bis weit in den Osten hinein – nach Marzahn. Das Feine ist: Man muss immerzu geradeaus fahren. Der erste Teil der Strecke – Karl-Marx-Allee – steht ganz im Zeichen des sozialistischen Realismus. Ab der Frankfurter Allee wird es klassisch bis bürgerlich, später, ab Lichtenberg, beginnt dann das Wohnen in „der Platte“. Manche Siedlungen sind sehr bunt und interessant gestaltet, mit großzügigen Grünanlagen zwischendurch. Die Fahrradtour kann über Alt-Friedrichsfelde bis zum Schloss Biesdorf fortgesetzt werden. Ein Schloss in der Plattengegend: auch nicht unlustig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2015)

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