Kritik am Dorfmilizensystem

Das Blutbad von Bilge sei Ergebnis staatlicher türkischer Politik.

Istanbul (ag). Nach dem Blutbad bei einer Verlobungsfeier in der Türkei wächst die Kritik am System der im Kampf gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK aufgerüsteten Dorfmilizen. Mehrere Politiker der Opposition und der Regierungspartei AKP forderten, die bisherige Strategie auf den Prüfstand zu stellen, berichteten türkischen Medien am Mittwoch. Maskierte Dorfmilizionäre hatten am Montag in dem Dorf Bilge im Südosten des Landes 44 Menschen einer Festgesellschaft erschossen. Hintergrund ist nach bisherigen Ermittlungen eine Familienfehde.

Nun soll untersucht werden, ob das System der „Dorfschützer“ die Straftat begünstigt hat. Die oppositionelle Republikanischen Volkspartei (CHP) will eine Delegation in die Region schicken, um sich zu informieren. Emine Ayna, ein Führungsmitglied der prokurdischen Oppositionspartei DTP, forderte, die Einheiten der Dorfschützer aufzulösen. Das Massaker sei Ergebnis einer staatlichen Politik, die darauf ziele, Kurden gegen Kurden kämpfen zu lassen.

Protest kam auch aus Österreich: Der Verband der Kurdischen Vereine in Österreich hat schwere Kritik geübt. Die türkische Regierung habe diese Dorfschützer gegen die PKK-Guerilla eingesetzt und mit Waffen und Macht ausgestattet. Doch immer wieder würden sie ihr Macht missbrauchen, indem sie „persönliche Interessen mit Waffengewalt durchsetzen“. Die Dorfschützer wurden von der türkischen Regierung im Kampf gegen die PKK mit automatischen Waffen ausgerüstet.

Geschaffen wurde das Milizsystem 1985. Nach Angaben des Innenministeriums in Ankara gibt es etwa 59.000 von der Regierung angestellte und bezahlte sowie weitere 12.000 freiwillige Dorfwächter. Dorfschützern wurden immer wieder Menschenrechtsverletzungen und Straftaten vorgeworfen.

„Wollten ganze Sippe auslöschen“

Acht der mutmaßlichen Mörder von Bilge sitzen mittlerweile in Untersuchungshaft. Laut Zeitungsberichten hat ein Verdächtiger ausgesagt, Auslöser für das Blutbad sei ein Streit um die in dem Dorf anstehende Hochzeit gewesen, berichtete die Zeitung „Hürriyet“ am Mittwoch.

Die Dimension des Verbrechens hat die Türkei schockiert. Auf die Frage, warum die Täter so viele Frauen und Kinder töteten, antwortete der Verdächtige laut „Hürriyet“, die Angreifer hätten auf diese Weise eine Blutfehde der betroffenen Sippe verhindern wollen: „Wir wollten diese Familie ganz auslöschen, weil niemand übrig bleiben sollte, der sich an uns rächen könnte.“

Einerseits soll es um einen langen Streit über Landbesitz gegangen sein, andererseits aber auch um eine Vergewaltigung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2009)

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