Was ich lese

Regisseurin, derzeit beim „wellenklaenge Festival“ in Lunz/See
[ Foto: Vadim Belokovsky ]

Als der Knabe in den nagelneuen Lederschuhen die Bibliothek betritt, ahnen er wie ich noch nicht, dass uns seine klackenden Schritte auf dem Linoleum in ein unheimliches Reich entführen werden, aus dem es kein Entrinnen geben wird. „Ich suche da ein Buch“, sagt der Bub. „Die Treppe runter und rechts, Zimmer 107“, sagte die Frau ohne aufzuschauen.

Das gesuchte Buch soll merkwürdigerweise die Steuereintreibung im Osmanischen Reich behandeln. In Zimmer 107 angekommen, trifft der Knabe auf einen cholerischen Alten, der ihn sein Interesse an dem Buch gleich wieder vergessen lässt. Doch der Alte fühlt sich herausgefordert, schleppt drei dicke Bände heran und zwingt das Kind durch ein weitläufiges Kellerlabyrinth unter der Bibliothek in ein stockdunkles Loch mit der Aufschrift „Lesesaal“.

Hier, gefangen in der Unheimlichen Bibliothek (DuMont Buchverlag), begegnet der Junge seinen tiefsten Ängsten,doch nicht bei Wasser und Brot. Dreimal täglich werden die köstlichsten Speisen von einem sanftmütigen Schafsmann serviert. Er bringt nicht nur Spargel in Sesamsoße und ein großes Glas Traubensaft, sondern auch Trost: „Im Grunde hast du einfach Pech gehabt.“ Als alles nichts mehr hilft, erscheint das Mädchen, dessen Stimmbänder in der Kindheit zerstört wurden, und lächelt ihn an – so lieblich und süß, dass es dem Buben den Atem nimmt. Die Angst wird er überwinden und aus dem Labyrinth entkommen.

Diese wundersame Geschichte von Verlust und Einsamkeit, von erster Liebe und Befreiung scheint wie die Quelle, aus der sich viele große Romane des japanischen Meisters Haruki Murakami speisen. Tatsächlich schrieb er die Erzählung 1982. Sie wurde von Kat Menschik kongenial illustriert. Wer sich eine Stunde lang in seinen Träumen verlieren möchte, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)

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