Was bringt das Schweigen?

Ana Mijic
Ana Mijic (c) Die Presse - Valerie Voithofer
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Die Soziologin Ana Mijic erkundete das Selbstbild von Bosniaken, Serben und Kroaten nach dem Krieg. 20 Jahre danach sehen sich alle drei Ethnien in Bosnien als Opfer.

Erzählen Sie mir von Ihrem Leben.“ So in etwa hat Ana Mijic in Bosnien und Herzegowina Leute in ein Gespräch verwickelt. Die Soziologin wollte in ihrer Dissertation an der Uni Wien herausfinden, welches Selbstbild die Menschen in der Nachkriegszeit dieses Landes haben. Und welches Bild des jeweils anderen ein Serbe, eine Kroatin oder ein Bosniake haben. „Ein Angler an einem Teich hat mir seine Lebensgeschichte erzählt, nur weil die Fische nicht gebissen haben“, sagt Mijic. Die gebürtige Schwäbin hat bosnisch-kroatische Eltern, die Ende der 1960er-Jahre als „klassische Arbeitsmigranten“ nach Deutschland kamen. „Ohne bosnische Sprachkenntnisse hätte ich diese Forschungen nicht machen können“, sagt Mijic. Sie verbrachte viel Zeit in verschiedenen Regionen in Bosnien und Herzegowina und sammelte Interviews mit zahlreichen Personen aller sozialer Schichten. In der Analyse verglich sie Stadt und Land oder ethnisch heterogene und homogene Gemeinden, also Menschen, die viel Kontakt zu anderen Ethnien haben, und solche, die unter ihresgleichen leben.

„Ich fand heraus, dass sich Menschen in Bosnien und Herzegowina ganz zentral über ihre ethnische Zugehörigkeit definieren. Egal, welcher Ethnie sie angehören, sie erschaffen ein positives Wir-Bild, um ein positives Selbstbild zu erhalten“, erklärt Mijic. Einfach gesagt: Jeder hält seine Gruppe für die Guten und die anderen für die Bösen. Und jede Gruppe hält sich selbst für das Opfer. Diese „Selbstviktimisierung“ taucht auch bei der Berichterstattung im Vorfeld des Gedenkens an das Massaker von Srebrenica auf, das sich heute, am 11.Juli, zum 20. Mal jährt. „Die serbische Seite sieht sich als Medienopfer, hält die Opferzahlen für überspitzt und sagt, dass dies kein Genozid war“, sagt die Soziologin. Dabei sei es schwierig, so lange Zeit nach dem Krieg das Opferbild aufrechtzuerhalten: „Immerhin wird man ständig mit den anderen Ethnien und ihrer Sichtweise konfrontiert.“ Mijic fand in den Gesprächen verschiedene Strategien, die es der Bevölkerung ermöglichen, weiter an ihre Opferrolle zu glauben. Erstens kann man den anderen vorwerfen, nicht die Wahrheit zu sagen und Geschichten für konstruiert abtun. Weiters würden viele den Krieg „subjektivieren“, also ihn als Naturkatastrophe empfinden und somit die Menschen aus jeglicher Verantwortung nehmen. Und Mijic ortet eine starke Tabuisierung des Krieges im „interethnischen“ Gespräch. „Über dieses Schweigen, wenn es um den Krieg geht, forsche ich nun am Institut für Soziologie weiter“, sagt sie.

Sie konnte nach der Babypause – die Tochter wurde eine Woche nach der Abgabe der Dissertation geboren – mit einem „Back to Research“-Stipendium der Uni Wien 2014 wieder voll ins Forscherleben einsteigen. Kürzlich erhielt sie das Hertha-Firnberg-Stipendium des Wissenschaftsfonds FWF, mit dem sie ab 2016 über die bosnischen Diaspora forschen will. „Vorher will ich noch wissen, welche Funktion das Schweigen im Nachkrieg hat“, sagt Mijic. Man kann aus Trauer, Taktgefühl oder Scham schweigen. Oder auch, um seine eigene Wirklichkeit nicht zu gefährden. „Deshalb sprechen viele in Bosnien nur mit Gleichgesinnten, damit die eigene Sichtweise nicht ins Wanken gerät. Über die Verbrechen der eigenen Ethnie wird geschwiegen.“

Konflikte ermöglichen Fortschritt

In ihren Forschungen zieht sie auch Vergleiche zur Nachkriegszeit in Österreich, wo die „Selbstviktimisierung“ nach 1945 sehr ausgeprägt war. „Das war ein Versuch, die Situation zu normalisieren. Diese Normalisierung klappte in Bosnien und Herzegowina nicht gut“, sagt Mijic. Als Konfliktforscherin ist sie auch privat nicht nur auf Harmonie eingestellt: „Ich bin für den gewaltfreien Konflikt. Denn eine konfliktfreie Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Fortschritt.“

ZUR PERSON

Ana Mijic wurde 1979 in Deutschland geboren und studierte in Tübingen Politikwissenschaft und Soziologie. Nach ihrer Arbeit am Institut für Friedenspädagogik in Tübingen wechselte sie als Assistentin an das Institut für Soziologie der Uni Wien, wo sie ihre Dissertation verfasste. Das Buch „Verletzte Identitäten“ erschien 2014 im Campus Verlag. 2012 verbrachte sie einige Monate in Dublin und lebt jetzt mit ihrer Familie in Wien.

Alle Beiträge unter:diepresse.com/jungeforschung

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2015)

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