Ungarns Grenzzaun: Stacheldraht gegen den Traum von Europa

Derzeit wird im südlichen Ungarn ein Grenzzaun errichtet
Derzeit wird im südlichen Ungarn ein Grenzzaun errichtetClemens Fabry / Die Presse
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Ungarn hat mit dem Bau des umstrittenen Grenzzaunes an der serbischen Grenze begonnen. Damit sollen die Flüchtlinge aufgehalten werden.

Angelehnt an den hellen Ziegelbau, unter dem schattigen Vordach in einem Eck, vor einem großzügig gestalteten Platz mit hölzernen Bänken und silbrigen Wasserspendern, sitzt eine Gruppe Menschen und wartet auf Europa. Es ist heiß. Die Luft steht wie eine Betonwand, und die Geräusche des Alltags hängen dumpf über dem Asphalt. Der Mittag hat Szeged im südlichen Ungarn in einen trägen Halbschlaf versetzt, und auch die Gruppe auf dem Bahnhofsvorplatz bewegt sich kaum. Ab und zu steht einer auf und wäscht sein Gesicht am Wasserspender, ein anderer, an die Wand gelehnt, telefoniert per Skype mit seiner Familie. Ungarn ist für sie einer der ersten Stopps in der Europäischen Union. Bis nach Szeged war es für die allermeisten ein kräftezehrender Weg, und von dieser 170.000-Einwohner-Stadt aus wollen die allermeisten auch weiterziehen. Sie träumen von Belgien, Frankreich, Deutschland.

Zur selben Zeit, bei derselben Hitze stehen 25 Kilometer weiter in Mórahalom der ungarische Innenminister, Sándor Pintér, und der Verteidigungsminister, Csaba Hende, auf einem grauen Podest, der eigens für diese Stunde aufgestellt wurde. Rundherum hellgrüne Fauna, die Wege sind aus Sand, wie man ihn von der Adriaküste kennt. Hinter Pintér und Hende bauen Soldaten einen Grenzzaun auf, demonstrativ für die anwesenden Journalisten. Das Material ist neu und glänzt unwirklich in der Sonne, der Stacheldraht fehlt noch. Die Minister sagen, dass der Zaun provisorischen Charakter habe – eine Antwort auf die internationale Kritik, dass Budapest nun die EU-Außengrenze dicht macht. Ungarn könne den Flüchtlingsstrom einfach nicht mehr bewältigen, sagen die Politiker der national-konservativen Regierungspartei Fidesz. Ungarn baue seit dieser Woche einen 175 Kilometer langen Eisernen Vorhang entlang der Grenze zu Serbien auf, antworten die Kritiker.

Auf dem Bahnhofsvorplatz in Szeged fällt Balázs Szalai nicht viel ein, was er zum Geschehen in Mórahalom sagen könnte. „Der Zaun“, meint er achselzuckend, irgendwie resigniert, „wird nicht das Problem lösen. Das wissen alle.“ Szalai kniet an der Ziegelwand und redet mit einem dünnen Mann im gestreiften Pulli, er gestikuliert kräftig und klopft ihm auf die Schulter, der Mann nickt. Reden, zuhören, trösten, das macht Szalai ununterbrochen. Er ist ein gut gelaunter Mann, Ansprechpartner für so ziemlich jeden, ein 34-jähriger Programmierer, der seine längeren, braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hat. Als die Staatsbahnen den Flüchtlingen untersagt haben, in der Bahnhofshalle zu übernachten, haben Szalai und andere freiwillige Helfer Decken besorgt. Damit sich die Flüchtlinge zudecken können, wenn sie draußen auf dem Platz schlafen.

Kühlschrank und Gemüse

Die Stadt Szeged stellt mittlerweile ein Holzhäuschen als Informationsstand, gratis Internet, Wasser und mobile Toiletten zur Verfügung, weil die sanitären Anlagen im Bahnhof geschlossen wurden. Um den Rest kümmern sich Leute wie Szalai. Er erzählt, dass eine alte Frau einen neuen Kühlschrank gekauft und vorbeigebracht habe, damit die Sandwiches für die Flüchtlinge in der Hitze nicht eingehen. Eine andere Frau habe die Ernte aus ihrem Garten gespendet. Andere wiederum würden zu dem Holzhäuschen kommen und den Helfern entgegenschleudern, was für Idioten sie seien, erzählt Szalai: „Aber mit uns reden wollen sie dann auch nicht.“

So viele Berichte es aus Ungarn über fremdenfeindliche Aktionen gibt, über Neonazi-Banden, die durchs Feld ziehen und schauerliche Parolen brüllen, so viel Solidarität mit den Flüchtlingen ist auch spürbar. In Budapest wurde eine Demonstration gegen den Bau des Zaunes veranstaltet, Einwohner in verschiedenen Städten spenden Essen, Kleidung, Kinderspielzeug, und Sprachstudenten stellen sich als Übersetzer zur Verfügung, wie Ernö Simon von der Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen (UNHCR) erzählt.

Ungarn gilt gemeinhin als Durchzugsraum. Allein in diesem Jahr haben laut Regierung 81.000 Flüchtlinge die ungarische Grenze passiert, 80.000 von ihnen kamen über Serbien, dort, wo nun der Grenzzaun aufgestellt wird. Was der Zaun nach der Fertigstellung Ende November bewirken wird, kann Simon nicht abschätzen. Die Flüchtlingshilfe sei freilich gegen jede Art von Hindernis für Asylsuchende, und auch juristisch gesehen sei das Vorhaben eine heikle Gratwanderung, denn der Zaun steht ausschließlich auf ungarischem Gebiet. Wenn es ein Flüchtling bis hierher geschafft hat, befindet er sich auf ungarischem Boden – und hat hier auch ein Anrecht auf Asyl. Andererseits seien die Camps im Land bereits übervoll, sagt Simon. Im Lager Debrecen etwa sind über 2000 Flüchtlinge untergebracht, wobei für maximal 1100 Menschen Platz vorhanden sei. Auch hier schläft man draußen auf dem Boden.

Flucht vor dem IS

An manchen Tagen verteilen Szalai und seine Kollegen bis zu 500 Sandwiches an die Flüchtlinge, die in Szeged auf Züge und Busse nach Westeuropa warten. Wer zu Szalai kommt, wurde schon registriert, darf das Auffanglager verlassen und sollte eigentlich weiter in ein ungarisches Camp. Wer zu Szalai kommt, hat den Großteil der Flucht hinter sich, ist entweder vor der Armut geflohen, vor dem Krieg in Syrien oder dem Islamischen Staat (IS), wie etwa der junge Mann, vor dem der Helfer kniet und dem er gut zuredet.

Später wird der Mann erzählen, dass er ein Jeside aus dem Irak ist. Als der IS im vergangenen Sommer den Nordirak eingekesselt hat, sind tausende Jesiden auf den Berg Sinjar geflohen, darunter auch der Mann, der nun in Szeged sitzt und anonym bleiben möchte. Acht Tage sei er auf dem Berg gewesen, ohne Essen, manchmal gab es Wasser. Erst als kurdische Milizen die Jesiden befreiten, konnte er über die Türkei nach Bulgarien flüchten. Der Mann deutet auf seine Frau, die an der Wand kauert und ihn mit Blicken ermutigt weiterzureden. „Zwölf Stunden“, sagt er. Zwölf Stunden seien sie zwischen Bulgarien und Serbien durch die Berge gewandert, nachts, ohne Licht. Der Schlepper, den sie bezahlt haben, hat sie an der serbischen Grenze abgesetzt, in Belgrad fanden sie einen anderen Schlepper, der sie nach Ungarn brachte. Zu Fuß passierten sie die Grenze, wie auch alle anderen Grenzen zuvor. Ihr Ziel ist Deutschland, wo er einen Onkel hat und wo er Arbeit finden will. Er mache alles, sagt der Mann. Eigentlich ist er Kardiologe.

Balázs Szalai hört diese Geschichten jeden Tag, viel zu oft grenzen sie an Wahnsinn. Erschöpfte Menschen stehen dann vor ihm, die etwa zu Fuß quer durch Pakistan gegangen sind, tagelange Wanderungen hinter sich und Hunger gelitten haben. Ein Pakistaner erzählt, dass er in Griechenland sechs Monate im Gefängnis verbracht hat, weil im Flüchtlingslager kein Platz mehr war. Auf dem Bahnhofsvorplatz in Szeged sagt man, dass mit dem Zaun diese Fluchtgeschichten nicht aufhören werden; es wird nur eine unschöne Episode hinzukommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2015)

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