An der kalten Progression werden wir Schelling messen

Es wäre ein großer Wurf, würde man endlich die kalte Progression abschaffen. Die Frage ist nur, wie die Koalition die Entlastung finanzieren wird.

Es ist fast ein wenig untergegangen, dabei hat dieses Vorhaben steuerpolitisch eine weitaus größere Dimension als die erst vor zwei Wochen beschlossene Tarifreform: Die ÖVP möchte die kalte Progression abschaffen. Damit würden Teile der Steuerreform von einem kurzzeitigen Zuckerl zu einer permanenten Entlastung werden. Was im Detail geplant ist, konnte Hans Jörg Schelling noch nicht sagen – oder wollte es nicht, weil man im Finanzministerium dem Vernehmen nach bereits an sechs verschiedenen Modellen rechnet (man hat vielleicht nach der Steuerreformdiskussion gelernt, dass man Vorschläge besser erst intern mit dem Koalitionspartner bespricht, anstatt ihn öffentlich vor eine Entscheidung zu stellen).

Um die Dimension der Ankündigung zu verstehen: Die kalte Progression – also die zusätzlichen Abgaben, die wir bezahlen, weil die Einkommensgrenzen für die Lohnsteuer nicht an die Inflation angepasst werden – ist keine kleine Sache. Das Wirtschaftsinstitut Agenda Austria kommt auf 11,5 Milliarden Euro, die die Republik von 2009 bis Ende dieses Jahres durch die kalte Progression an zusätzlichen Einnahmen lukrieren wird. Laut der Innsbrucker Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung macht der Betrag alleine heuer 3,25 Milliarden Euro aus. Die Steuerreform, die ab kommendem Jahr greift und dem Durchschnittsverdiener etwa 900 Euro mehr im Jahr lässt, ist so oder so also nur eine Rückerstattung von zu viel bezahlten Steuern. Im besten Fall würde die Entlastung noch zwei, drei Jahre wirken, bevor sie von der kalten Progression schon wieder aufgefressen wird.

Die Abschaffung der automatischen Lohnsteuererhöhung wäre eine nachhaltige und dauerhafte Entlastung – auch schon ohne eine Tarifreform, weil damit von einer Lohnerhöhung auch wirklich in erster Linie der Belohnte und nicht vor allem der Staat profitieren würde. Man muss Schelling und die ÖVP also loben, genauso, wie man ÖGB, Arbeiterkammer (AK) und damit indirekt die SPÖ loben muss: Denn auch im Steuerreformkonzept der Arbeitnehmervertreter findet sich folgender Passus: „Die Folgen der kalten Progression müssen deutlich eingedämmt werden.“ ÖGB und AK schlagen eine Anpassung vor, wenn die Teuerung fünf Prozent erreicht hat. Am guten Willen kann die Abschaffung also nicht mehr scheitern, die Koalition scheint sich einig.

Die Gretchenfrage ist, wie man die laut Schelling 400 Millionen Euro finanzieren will, auf die der Staat ab 2017 nach Abschaffung der kalten Progression jährlich wird verzichten müssen. Für die SPÖ führt dann vermutlich kein Weg mehr an einer breiten Erbschafts- und Vermögensteuer vorbei. Damit würde man also, wie bei großen Teilen dieser Steuerreform, eine Steuererleichterung mit der Einführung neuer Steuern finanzieren.


Das kann es ganz sicher nicht sein! Österreich habe, hat Schelling in der Vergangenheit wiederholt betont, kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem. Es wäre nett, würde er seine Erkenntnis zum Maßstab seines Handelns machen und diesmal nicht mitziehen, wenn der Koalitionspartner im Gegenzug Steuern erhöhen oder neue einführen will.

Der Staat gibt jährlich 172 Milliarden Euro aus. Bei dieser Summe wird man wohl irgendwo 0,3 Prozent finden, um die Abschaffung der kalten Progression zu finanzieren. Allein die Transfers an die privaten Haushalte machen etwa 54Prozent der Ausgaben aus, zwölf Prozent werden für „Förderungen an Marktproduzenten“ (darunter Landwirtschaft, Industrie, ÖBB) aufgewandt.

Oder noch besser: Man finanziert es mit einer Reform des Pensionssystems, die ohnehin längst fällig ist. Gingen die Österreicher nur ein Jahr später in Pension, brächte das dem Staat jährlich eine Milliarde Euro.

Daran wird man Hans Jörg Schelling messen: nicht an der Ankündigung, die kalte Progression abschaffen zu wollen, sondern daran, wie er diese Abschaffung finanzieren wird. Ein Mal mag er dem Koalitionspartner nachgegeben haben, in dieser Frage aber sollte er seine alemannische Sparsamkeit und Hartnäckigkeit unter Beweis stellen.

E-Mails an: norbert.rief@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2015)

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