Europas Jahrestage und seine Selbstzweifel

Wie viel Vergangenheit steckt in Europas Zukunft? Unsere Fokussierung auf vermeintliche Misserfolge und Probleme gefährdet das Projekt der europäischen Einigung. Ein klarerer Blick in die Geschichte kann weiterhelfen.

Hundert Jahre Völkermord an den Armeniern, 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs, 20 Jahre Srebrenica-Genozid – 2015 ist ein Jahr der Gedenken, doch nicht nur 2015. Wir Europäer reisen mit schwerem Gepäck: Allein im 20.Jahrhundert haben wir mehr Geschichte produziert, als wir schultern konnten. Wir konnten sie auch nicht einfach abwerfen, wir arbeiten sie ab, mehr oder weniger produktiv, und versuchten uns mit gutem Willen an einem größeren Ganzen, der europäischen Einigung.

Und nun die Krise, vielmehr die Krisen: Finanzkrise, Griechenland-Krise, Ukraine-Russland-Krise, Flüchtlingskrisen, um nur einige zu nennen. Alte Ressentiments leben wieder auf. Viel ist von Provokation und gebrochenen Regeln auf der einen, von Diktat, Rechthaberei und verweigerter Solidarität auf der anderen Seite die Rede. In der Kakofonie malen wir reflexartig gleich ein gescheitertes Projekt Europa an die virtuelle Wand.

Das Chaos rückt näher

Gleichzeitig scheint das Chaos von den östlichen und südlichen Rändern an Europa heranzurücken. 1989 überwunden geglaubte Antagonismen brechen – kaum verkleidet – wieder auf. Neue Totalitarismen – Stichwort IS – kommen hinzu. Ukraine, Syrien, Irak, Nordafrika, Migration, Verschuldung: Krisen kochen hoch und simmern weiter. Wir versuchen, sie zu kontrollieren. Sie zu lösen scheint utopisch. Mit Europas kolonialer Vergangenheit im Rücken und hehren menschenrechtlichen Motiven als Maxime glauben wir dennoch in gelegentlicher Selbstüberschätzung, auch für alle Ungerechtigkeiten und Konflikte jenseits unserer Grenzen verantwortlich zu sein.

Wäre die EU der Rolle als neuer, den USA moralisch überlegener Weltpolizist gewachsen? Bei den vor sich hin scheiternden Friedensbemühungen mündet unsere schuldbewusste Hybris in Resignation. Kaum kommen wir der UNO-Vorgabe der „Responsibility to Protect“, also der völkerrechtlichen Schutzverantwortung für Kriegsopfer nach: Wir konzentrieren uns darauf, die gestürmten Grenzen wieder verstärkt zu bewachen, und paktieren – zumindest vorübergehend – dafür und aus wirtschaftlichen Gründen mit Autokraten.

Selbst in aufgeklärten Kreisen wird die Universalität von Demokratie leise angezweifelt: Ist das freiheitliche Modell auch für Russland geeignet? Für den arabischen Raum? Gar China oder Afrika?

Das Beispiel Balkan

Beim Versuch, uns nicht von kolonialen Erinnerungskomplexen gefangen nehmen zu lassen, sondern den Herausforderungen zu begegnen, ist tatsächlich eine permanente Krisenbewältigungskompetenz (was für ein Wortmonster) gefragt. Längst wissen wir, dass 1989 „das kurze 20.Jahrhundert“ nicht zu Ende ging, schon gar nicht die Weltgeschichte, wie dem Historiker Francis Fukuyama etwas verzerrt in den Mund gelegt worden ist.

Die Geschichte allein ist für internationale Problemlösungen keine perfekte Lehrmeisterin. Einmal erinnert sie an ein antikes Orakel, bei dem die Antwort ein Kind der Zeit ist, dann wieder an eine Trümmerlandschaft, aus deren Geröll sich nach Belieben Denkkonstrukte bauen lassen.

Vergangenheitsbesessenheit kann genauso schädlich sein wie Vergangenheitsvergessenheit. Eindringlich haben wir das auf dem Balkan nach 1989 gesehen: Eine Volksgruppe begeht voll Pathos eine 600-Jahr-Niederlage auf dem Amselfeld/Kosovo Polje und sieht dann, mythisch und völkisch auch durch späteres Leid aufgestachelt, in einem neuen Krieg die kultivierte Erinnerung als Berechtigung, Revanche zu nehmen.

Keine Konfliktpartei ist Täter oder Opfer allein. Die Jugoslawien-Kriege der 1990er-Jahre sind, wie jene am Südrand der Sowjetunion, ein Erbe der europäischen Geschichte – zu der einst auch noch, ob es uns gefällt oder nicht, die Türkei gehört hat. Die Zerfallskriege waren eine europäische Herausforderung, aber sie waren nicht die Schuld der EG/EU. Auch eine oft als mangelhaft kritisierte EU-Beitrittsperspektive ist für die Instabilität in Europas Südosten nicht verantwortlich zu machen.

Am Beispiel Griechenland müssen wir das schmerzlich erkennen: Ein Beitritt allein löst keine Strukturprobleme schwacher, auf Klientelismus aufgebauter Gemeinwesen. Aber auch politische, wirtschaftliche oder vermeintlich moralische Protektorate bieten wenig Perspektive.

Die EU als Sündenbock

Srebrenica ist erst 20 Jahre her. Die politischen und menschlichen Folgen sind noch längst nicht verheilt. Europas Völker tragen die Bürde von Schreckenstaten sonder Zahl. Selbst unsere Kinder werden noch mit etlichen Jahrestagen konfrontiert sein, wo es weniger zu feiern als zum Nachdenken geben wird.

Wir nehmen Jahrestage zum Anlass, uns der Verantwortung zu erinnern, die uns die Geschichte aufgebürdet hat. Nach den Erfahrungen des 20.Jahrhunderts misstrauen wir in der Atempause zwischen der Vergangenheit und der zu entscheidenden Zukunft allen radikalen Utopien. Nur, werden wir durch Krisen wirklich stärker?

Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs haben uns die Vision einer europäischen Einigung und die konkreten, oft mühsamen Schritte seither weit gebracht. Wir haben Grund, stolz auf die Erfolge der vergangenen 70 Jahre zu sein. Doch mittlerweile ist die EU Sündenbock für allerlei Übel.

Große Herausforderungen, die rein gar nicht die „Schuld“ der EU sind, verlangen Lösungen: Überalterung, Pensionssysteme, Pflege oder die enorme wirtschaftliche Konkurrenz aufstrebender Länder vor allem in Asien, um nur zwei Themenbereiche zu nennen. Chinas Machtpolitik in Fernost ist beunruhigend, aber sein Erscheinen in Afrika könnte noch kaum erahnte Perspektiven für den großen Kontinent in Europas unmittelbarer Nachbarschaft bringen.

Fragiler Wohlstand

Über die Wüste und das Mittelmeer betrachtet mag unser Wohlstandseuropa noch immer als bestens sortierter Supermarkt erscheinen – doch wir selbst spüren die Fragilität unseres Wohlstands und Friedens.

Europa ist mehr als ein Experiment. Bürgerbeteiligung und verbindliche Regeln innerhalb wie auch jenseits unserer Grenzen sind ebenso nötig wie eine Europäische Vision. Selbstkritik ist wichtig und produktiv. Selbstzweifel im Übermaß aber ist destruktiv und droht zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung des Scheiterns zu werden.

Die Gefahr besteht, dass Europa ein Elitenprojekt bleibt, während – angestachelt von Populisten jeder Art – ein Rückzug auf Nationalstaaten wieder mehrheitsfähig wird. Die Folgen wären wenig erbaulich – politisch, wirtschaftlich, kulturell: Nur Demagogen würden von diesem Rückfall hämisch profitieren.

Bei der Fokussierung allein auf Probleme gerät der Erfolg der europäischen Einigung in Vergessenheit. Das Gelingen des Projekts auch in Zukunft braucht einen gelegentlichen, aber klaren Blick in Europas Vergangenheit.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Gunther Neumann
(*1958 in Linz) studierte Geschichte, Anthropologie und internationale Beziehungen an der Uni Wien. Er war 20 Jahre lang in leitender Position bei internationalen Organisationen tätig, u.a. als stellvertretender Direktor bei der OSZE. Heute ist er Vizepräsident des Kelman Institute for Interactive Conflict Transformation. Zahlreiche Publikationen und Lektorate. [ Nambou Mounikou]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2015)

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