Schießereien überschatten das Gedenken an den vor einem Jahr von einem Polizisten getöteten Michael Brown. Der Notstand wurde verhängt.
Washington. 40 bis 50 Schüsse binnen nur 45 Sekunden, panische Passanten, die sich auf den Boden werfen, ein schwarzer Jugendlicher, der mit einer gestohlenen Pistole auf Polizisten feuert und nach einer Verfolgungsjagd niedergeschossen wird: die Kundgebung in der Kleinstadt Ferguson im US-Teilstaat Missouri zum Gedenken an den vor einem Jahr von einem weißen Polizeibeamten erschossenen schwarzen Jugendlichen Michael Brown entglitt in der Nacht auf Montag auf gefährliche Weise.
Knapp nach 23 Uhr war es am Rande der Demonstration zu einer Schießerei zwischen zwei Gruppen junger schwarzer Männer gekommen; der Auslöser dafür ist unklar, jedenfalls nahmen vier Polizisten die Verfolgung eines der Schützen auf. Er ignorierte die Aufforderung, sich zu ergeben, und schoss auf die Windschutzscheibe des Polizeiautos. Die Polizisten verfolgten ihn, nach einer weiteren Schießerei auf einem Parkplatz fiel der 18-jährige Mann, der später von seinem Vater als Tyrone Harris jr. identifiziert wurde. Der Zeitung „St. Louis-Dispatch“ zufolge hatte er dieselbe Schule wie Michael Brown besucht und war mit ihm befreundet gewesen. Woher Harris die im Jahr 2014 in einem ziemlich weit von Ferguson entfernten Ort als gestohlen gemeldete Sig-Sauer-Pistole vom Kaliber 9 Millimeter hatte und wieso er an der Schießerei teilnahm, war bis Dienstag nicht bekannt.
Die Behörden in Ferguson haben daraufhin den Notstand verhängt. Man werde in der Region keine weitere Gewaltakte dulden, teilte der zuständige St. Louis County am Montag mit.
Zweifel an Browns Opferstatus
Ziemlich klar ist hingegen mittlerweile, was sich vor einem Jahr zwischen dem 18-jährigen Michael Brown und dem 29-jährigen weißen Polizeioffizier Darren Wilson ereignet hatte. Und es entspricht nicht dem unmittelbar nach Browns Tod durch Wilsons Schüsse in den Medien verbreitet Bild.
Einem Bericht des US-Justizministerium zufolge hatte Brown durch das offene Fenster des Dienstautos auf Wilson eingeprügelt und versucht, ihm die Dienstwaffe zu entreißen. Wilson hatte keinen Elektroschocker dabei und schoss Brown im Zug des Gerangels in die Hand (das belegen DNS-Spuren von Browns DNS im Inneren des Wagens und Schmauchspuren an seiner Hand). Brown lief dann vom Wagen weg, Wilson verfolgte ihn, und statt sich zu ergeben, lief Brown auf Wilson zu. Der Polizist erschoss ihn – aber nicht von hinten, wie Augenzeugen berichtet hatten. Deren Angaben seien fast durchwegs unglaubwürdig, heißt es im Bericht. Und vor allem hat Brown nicht die Hände gehoben und sich ergeben. Dem Slogan „Hands up, don't shoot“, mit dem seither landesweit gegen Polizeigewalt demonstriert wird, fehlt somit der Ursprung in Browns Tod.
Das ändert aber nichts an den schweren sozialen Missständen in fast allen amerikanischen Großstädten, die zur Brutstätte für Armut, Verbrechen und überforderte Polizeibehörden sorgt.
Das Justizministerium legte abseits der Untersuchung von Michael Browns Tod auch einen Bericht über die Missstände in der Polizeibehörde von Ferguson vor, einer Vorstadt von St. Louis mit rund 20.000 Einwohnern, deren ethnische Zusammensetzung sich seit 1990 rasant geändert hat: damals waren weniger als 25 Prozent der Bürger schwarz, heute sind es mehr als zwei Drittel. Die Polizei ist aber fast durchwegs weiß, und trotz großer Anstrengungen um die Verbesserung der Beziehungen zwischen der Sicherheitsbehörde und den Bürgern ist seither nur ein schwarzer Polizist dazugekommen.
Der Fall von Chris Taylor
Seit Browns Tod wird in den USA jeder Schusswaffeneinsatz eines Polizisten gegen einen Schwarzen besonders genau verfolgt. Das gilt auch für Fälle wie jenen des 19-jährigen Collegestudenten Chris Taylor, der vergangene Woche in Texas von einem weißen Polizeibeamten erschossen worden war. Taylor war um ein Uhr morgens mit seinem Geländewagen in die Auslage eines Autogeschäfts gekracht, war dann auf Autos herum gesprungen, hatte Windschutzscheiben zertrümmert und sich der Aufforderung, sich zu stellen, widersetzt. Dass er unbewaffnet war, war für die Polizisten im finsteren, teilweise zerstörten Autogeschäft wohl kaum zu erkennen. Dass sie während ihrer Amtshandlung keine Kameras am Körper trugen, erschwert jedoch die Beweislage.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2015)