Mieselsucht und Ironie: Österreich auf der Couch

Felix de Mendelssohn
Felix de Mendelssohn(c) Die Presse (FABRY Clemens)
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Zwischen verschlagener Mieselsucht, verborgenen Minderwertigkeitsgefühlen und charmanter Ironie: Der Psychoanalytiker Felix de Mendelssohn über die Abgründe und historischen Verletzungen der österreichischen Seele.

Herr de Mendelssohn, Sie sind in London aufgewachsen und leben und arbeiten seit vielen Jahren als Psychoanalytiker in Wien – mit distanziertem Blick auf Österreich. Wie nehmen Sie dieses Land wahr, in dem die Vergangenheit auf seltsame Weise auch immer Gegenwart ist?

Felix de Mendelssohn: Eine Diagnose der österreichischen Seele haben andere vor mir probiert – mit mehr oder weniger Erfolg. Anna Freud hat einmal gesagt, dass Psychoanalytiker ganz schlechte Menschenkenner sind. Sie meinte damit wohl in erster Linie ihren Vater, aber sie hatte recht: Wir Psychoanalytiker sehen immer nur die Innenwelt, also das, was sich im Vorbewussten abspielt. Aber wir sehen kaum, wie die Menschen im Alltag reagieren und wie sie sich verhalten. Österreichische Befindlichkeiten kann ich nicht über die Couch erfahren, sondern über das, was ich als Citoyen sehe, erlebe und diagnostiziere. Deshalb spreche ich über Österreich lieber als Privatperson. Was die Österreicher auszeichnet, ist eine gewisse Einsicht in die Absurdität ihres Daseins. Darüber verfügt der Deutsche viel weniger und der Schweizer fast gar nicht. Um diese Fähigkeit gruppieren sich alle möglichen Symptome: positive wie der ungeheure Sinn für Theatralik und eine tiefgründige Ironie, aber auch negative wie Weinerlichkeit, Brutalität und Verschlagenheit.

Bei der letzten Nationalratswahl hat fast ein Drittel der Österreicher rechte oder rechtsextreme Parteien gewählt, die sich mit Ausländer- und Europafeindlichkeit profilieren. Welche Aggressionen stecken dahinter?

Für den österreichischen Provinzialismus gab es zwei Möglichkeiten, als über die Frage der EU-Mitgliedschaft abgestimmt wurde: Die eine war, provinziell und damit draußen zu bleiben. Diese Tendenz ging quer durch alle Parteien und Schichten, auch quer durch meine Familie. Die andere war, dafür zu sein, schon deshalb, weil der rechtspopulistische Teil damit in Schach gehalten werden könnte. Der Weg, der schließlich eingeschlagen wurde, war und ist, in der EU zu sein und gleichzeitig Anti-Stimmung zu machen. Das hat schleichend begonnen, und das war ein Thema Haiders. Die Ausländerfeindlichkeit selbst ist kein rein österreichisches Phänomen. Auch in anderen Ländern, in Belgien zum Beispiel, wächst eine enorm ausländerfeindliche populistische Bewegung. Vielleicht hat das mit der Kleinheit eines Landes zu tun, in dem die Angst herrscht, dass die eigene Kultur untergeht. Allerdings wiederholt sich in Österreich auch die Geschichte: Haiders Vater etwa war ein überzeugter Nazi der ersten Stunde. Überhaupt finden Sie in vielen österreichischen Biografien die verrücktesten Generationsgeschichten: Familien, in denen die eine Hälfte Nazis war und die andere Hälfte Juden. Und die einen haben die anderen verraten oder auch gerettet. Ein großes Durcheinander.

Der „Herr Karl“ gilt als typisch österreichische Figur. Da heißt es: „Mein Verständnis von Demokratie ist: Die Pappen halten und lächeln.“

Wenn man vom Herrn Karl und dem vorauseilenden Gehorsam spricht, muss man schon die Geschichte Österreichs miteinbeziehen: Eine bürgerliche Revolution wie in Frankreich, wo man dem König den Kopf abgeschlagen hat, ist ausgeblieben. Hier herrscht eine tiefsitzende Gemütlichkeit, die mit dem Mythos der k. u. k.-Monarchie zu tun hat. In den ehemaligen Kronländern begegnet man dieser Sehnsucht nach den alten, besseren Zeiten ganz direkt. In Österreich hat wohl dieses Grundempfinden überlebt, von oben versorgt zu werden: vom Kaiser oder später von Bruno Kreisky.

Der österreichische Psychiater Erwin Ringel hat die österreichische Seele als hinterhältig, rachsüchtig und neidisch beschrieben; Ist diese Beschreibung des Landes der Neurosen noch gültig?

Ende der 1970er-Jahre hatte Ringel diagnostiziert, dass in der österreichischen Seele besondere Schuldgefühle implantiert seien. Die Erziehung funktionierte zu der Zeit über Sätze wie: „Wenn du das machst, ist die Mama traurig.“ Da traut sich das Kind nichts mehr. Eine weinende Mama ist eine viel schlimmere Bestrafung als ein böser Papa. So entstand ein depressives Klima. Damals hatte Österreich sehr hohe Selbstmordraten. Ich glaube aber nicht, dass Ringel diese Einsicht für endgültig hielt. Die Stimmung hat sich meines Erachtens positiv verändert.

Bei Ödön von Horvath heißt es in den Geschichten aus dem Wienerwald: „Denn hier ist nichts so, wie es scheint.“ Man könnte dabei an die mit zehn Jahren entführte Natascha Kampusch und den Fall des Familienvaters Fritzl denken, der mit seiner eingesperrten Tochter Kinder produziert hat. Doppelleben mit Inzest, Kinder im Keller: Haben deutsche Zeitungen zu Recht geschrieben: „Schon wieder Österreich“?

Nein, das kann überall passieren. In England ist ein nahezu identischer Fall aufgekommen. Aber es gibt hier sehr ländliche, katholische Gegenden, wo sich Dinge abspielen, von denen wir nur die Spitze des Eisbergs erkennen. In den abgelegenen Dörfern herrscht eine eigene Kultur, sie wird von Bürgermeister, Pfarrer und Arzt kontrolliert. Inzest, Misshandlung und Gewalt gehören fast zum Alltag. Und wenn einer in Not ist, macht er keine Psychotherapie, sondern hängt sich auf. Fälle wie Kampusch oder Fritzl zeigen einfach die Extremform einer noch aktiven patriarchalischen Herrschaftsstruktur. Es geht nicht anders zu als in manchen afghanischen Stämmen. Aufklärung ist nicht erwünscht.

Welches psychische Muster steckt dahinter, dass Deutschland seine Geschichte analysiert und aufarbeitet und Österreich im Vergessen eigener Untaten so geübt ist?

Die Deutschen sind in allem gründlich: Zuerst haben sie gründlich analysiert, wie sie die Juden ausrotten könnten, dann haben sie ihre eigene Schuld gründlich analysiert. Sie sind auch gründlich in der Reue. Manchmal geht mir diese Gründlichkeit auf die Nerven, aber mich freut auch ihre Sachlichkeit. Die Österreicher personalisieren und arbeiten mit Untergriffen. Was die Aufarbeitung der Nazizeit betrifft – da hatten die Deutschen wenig Wahl: Der Führerbunker stand nun mal in Berlin. Sie hatten eine geschichtliche Herausforderung und mussten sie annehmen. Die Österreicher hingegen konnten mit der Lebenslüge gut weitermachen – auch weil die Alliierten sich nicht einig waren, wie das Land aufgeteilt werden sollte. Außerdem wurde Österreich bei der Moskau-Deklaration die Opferrolle zuerkannt. Die Österreicher sind lange Zeit mit ihrem Charme durchgekommen. Die Wahl des vergesslichen Bundespräsidenten Kurt Waldheim und das Aufkommen Haiders haben Mitte der 1980er Jahre allerdings doch ein Bewusstsein für die Verbrechen der Vergangenheit geschaffen.

Österreich ist ein Land der Präsidenten und verfügt – neben dem Bundespräsidenten – über insgesamt 111.282 Häuptlinge ebenso vieler Vereine. Die Zahl hat sich seit den 1980er-Jahren fast verdoppelt. Ist das eine Art der Kompensation für den Verlust der Größe, den Österreich erleiden musste?

Der Untergang des Weltreichs und der Monarchie und das Zusammenschrumpfen sind die absoluten Traumata dieses Landes. Besonders gegenüber den Deutschen. Man hatte zwar ein paar Schlachten gegen Deutschland verloren, aber man war doch gleichwertig. Nach dem Ende der Monarchie blieb noch der Wunsch zum Anschluss, der dann zum Schlimmsten wurde, was passieren konnte.

Wirkt sich dieses kollektive Trauma auf den Einzelnen aus?

Mieselsucht und Neid zum Beispiel kann man speziell damit verbinden; Grant darüber, dass man nicht mehr ist, was man einmal war, und dass diese Böhmen und Slowaken sich heute als gleichwertig gebärden. Diesen Grant bekommt dann der Nachbar oder der Türke zu spüren. Man findet diesen Grant auch in der Literatur – er fängt mit Karl Kraus an und führt zu Thomas Bernhard. Zuvor herrschten doch eine gewisse Jovialität, Gelassenheit und bürgerliche Ordnung. Heute dominiert das Gefühl von Minderwertigkeit – beispielsweise wollte Vorarlberg in einer Volksabstimmung zur Schweiz, aber die Schweiz wollte das Land nicht nehmen. Solche Minitraumata verstärken das Gefühl von Minderwertigkeit. Die geschichtliche Rolle von Wien ist: vor den Türken geschützt zu werden, damals wie heute. Jetzt sind sie da, haben überall ihre Dönerbuden, und der Österreicher muss damit leben. Wien als Bollwerk gegen die finsteren Mächte des Ostens, das hat Tradition und wirkt im Unbewussten.

Es ist für ein Land auch schwierig, wenn so viele Traumata aufeinanderfolgen: der Kollaps des Kaiserreichs mit seiner hochformalen Bürokratie und der Komplexität der Kronländer, dann eine kleine, sehr fragile Demokratie, in der es zu einem Bürgerkrieg kommt, und schließlich der Anschluss und die Nazis. Vielleicht könnte das auch die EU-Feindlichkeit erklären: dass man sich als Nation aufgrund der vielen Erschütterungen noch immer nicht gefunden hat.

Österreich hat Freud und Hitler hervorgebracht. Wie passt das zusammen?

Beide sind aus verschiedenen Ecken der Monarchie nach Wien zugewandert. Adolf Hitler von Braunau am Inn über Linz, Sigmund Freud aus Mähren. Und der eine hat den anderen vertrieben. Wien war immer schon und ist bis heute die Welthauptstadt des Antisemitismus. Jeder Jude, der hier lebt, bekommt das zu spüren. Diese Tradition hat Hitler geprägt, und wohl auch Freud. Freud selbst meinte, dass er seine kritischen Fähigkeiten, sein Die-Dinge-nicht-in-Ruhe-Lassen und sein Genau-Hinschauen diesem Außenseitergefühl verdanke. Außenseiter mit Weltruhm ist er hier geblieben.

Die Langversion des Interviews können Sie in der aktuellen Ausgabe von „Psychologie Heute“ lesen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2009)

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