Der KP in Peking kommen revisionistische Töne aus Tokio nicht ungelegen. Mit antijapanischen Ressentiments lässt sich Nationalismus in China schüren.
Wird er, oder wird er nicht? Sieben Dekaden sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen, und Japans Nachbarstaaten warten immer noch gespannt, ob und wie sich Tokios Premier, Shinzō Abe, in einer Rede zum Jahrestag für die Gräueltaten der japanischen Armee entschuldigen wird. Die Vergangenheit wirft einen langen lähmenden Schatten auf die Region. Sie ist alles andere als bewältigt, sie schwärt wie eine Wunde – und sondert allerlei üble atavistische Gerüche ab.
Was Deutschland gelungen ist, hat Japan zum Teil verabsäumt. Und so liegen nach wie vor Geschichtsbrocken verstreut im innenpolitischen Gelände herum, aus denen Populisten im Namen einer missverstandenen nationalen Ehre ihr Gift saugen. So wird je nach Bedarf verharmlost oder aufgewiegelt, auf beiden Seiten der historischen Front.
Über Maos Verbrechen schweigen Chinas Kommunisten. Doch revisionistische Töne aus Tokio jagen sie begeistert durch ihre propagandistischen Verstärker. Denn längst ist der Nationalismus zu einer Säule ihrer Herrschaft geworden. Antijapanische Ressentiments können da hilfreich sein. Jede Leugnung historischer Fakten, jede Verbeugung vor dem Yasukuni-Schrein, in dem auch Kriegsverbrecher geehrt werden, und jede Geschichtsklitterung in Schulbüchern bieten einen Anlass, den Erregungspegel hochzuhalten. Doch abgesehen von dieser Instrumentalisierung bleibt es für Nachfahren der Opfer auch nach 70 Jahren empörend, wenn deren Leid nicht mit gebührender Reue anerkannt wird.
An den Verbrechen, die japanische Besatzer in China, Korea, Indonesien, Indochina und auf den Philippinen verübt haben, gibt es nichts zu rütteln. Sie begannen schon nach der Eroberung der Mandschurei, Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Allein in Nanjing metzelten japanische Soldaten 1937 bis zu 300.000 Zivilisten und Kriegsgefangene hin, in Manila im Februar 1945 rund 100.000. Niemand hat die toten Zwangsarbeiter genau gezählt, niemand die Opfer der Hungersnöte, niemand die „Trostfrauen“, die von Japans Armee zur Prostitution gezwungen wurden.
Solche Traumata verschwinden nicht mit den betroffenen Generationen. Ein Schlussstrich, den viele Japaner wünschen, lässt sich da nicht so einfach ziehen. Vor allem nicht, wenn Teile der Geschichte nicht unmissverständlich und in einem breiten Einverständnis aufgearbeitet sind. Genau darin besteht der Unterschied zu Deutschland, wie der große Asien-Kenner Ian Buruma konstatiert hat: In Japan fehlt dieser Grundkonsens über die eigene Kriegsvergangenheit. Es gibt nach wie vor Leugner und Relativierer, die dem dunklen Kriegskapitel Ehrenhaftes abgewinnen können. Das mag seine Ursache darin haben, dass die Amerikaner nach 1945 den Kaiser, den japanischen Oberbefehlshaber, verschont und die Japaner schon bald als Verbündete in der Region gebraucht haben.
Es stimmt: Japan hat sich nach 1945 friedfertig wie kaum ein anderes Land verhalten. Bis heute zählen die Japaner zu den engagiertesten Mitgliedern der UNO. Doch die Scheu vor dem schonungslosen Blick zurück rächt sich. 98 Prozent der Südkoreaner und 78 Prozent der Chinesen sind laut einer Umfrage von Pew Research der Ansicht, dass Japan sich nicht ausreichend für die Gräuel in den 1930er- und 1940er-Jahren entschuldigt hat.
Das ist insofern bemerkenswert, als japanische Regierungschefs in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt Worte der Reue und des Bedauerns gefunden haben. Vor 20 Jahren etwa brachte Premier Tomiichi seine „herzliche Entschuldigung“ zum Ausdruck. Doch überzeugend waren diese Gesten offenbar nicht, vielleicht, weil es an aufrichtiger Eindeutigkeit mangelte, vielleicht auch, weil im Lauf der Jahre manche die Entschuldigung nicht mehr annehmen wollten und ein Heilen der historischen Wunde nicht mehr opportun war.
Das ist gefährlich. Denn die Region entzweien ohnehin schon ideologische Gräben, Territorialkonflikte, auch die Lockerung der pazifistischen Verfassung Japans und vor allem die hegemonialen Ansprüche Chinas. Die emotionale Wucht, die offene historische Fragen von Schuld und Sühne entfalten können, kann in dieser leicht entflammbaren Konstellation niemand gebrauchen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2015)