Pro Woche kommen 21.000 Menschen in das wirtschaftlich angeschlagene Land. Die Welle erreicht nun auch Athen.
Athen/Genf. „Wir warnen seit Monaten, dass die Flüchtlingskrise in Griechenland immer schlimmer wird.“ Ein Sprecher des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) warnte am Dienstag vor einer weiteren Eskalation, sollten die EU-Partner nicht rechtzeitig helfen. „Die Infrastruktur für Aufnahme, Betreuung und Registrierung auf den griechischen Inseln und auf dem Festland muss dringend gestärkt werden.“ Allein in der vergangenen Woche kamen 20.843 Schutzsuchende an.
Die Fluchtwelle wird ständig stärker. Ein Großteil der Menschen erreichte Griechenland auf dem Seeweg aus der Türkei und kam auf den nahe gelegenen Inseln Kos, Lesbos, Samos und Chios an. Die meisten dieser Flüchtlinge kommen aus Syrien, Afghanistan und aus dem Irak.
Nachdem auf Kos kein freies Quartier mehr zu finden war, wurde auf der Insel nun ein Schiff für die Unterbringung von 2500 Personen umfunktioniert. Aber auch die Hauptstadt Athen ist mittlerweile betroffen. Im Park Pedion tou Areos haben sich 900 Flüchtlinge niedergelassen und ihre Zelte aufgestellt. Da die staatlichen Behörden mit einer Versorgung von so vielen Menschen überfordert sind, versuchen private Initiativen für das Notwendigste zu sorgen. Griechische Bürger versorgen die Flüchtlinge regelmäßig mit Nahrungsmitteln. Eine private Gruppe Solidarität für Pedion Areos hat allein in den vergangenen Tagen 5500 Portionen Essen und 300 Liter Tee ausgegeben.
Erst vergangene Woche hat EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos Nothilfe zur Lösung des griechischen Flüchtlingsproblems angekündigt. Außerdem werde der Zivilschutz-Mechanismus ausgelöst. Dadurch sei weitere Unterstützung durch die EU-Partnerstaaten in der Ägäis möglich.
Ein Grund für die verstärkte Fluchtwelle nach Griechenland ist die Lage in der Türkei. Fast zwei Millionen Menschen sitzen dort fest. Viele von ihnen versuchen nun die Weiterreise in die EU. Die türkische Küstenwache hat innerhalb eines Monats mehr als 18.000 Flüchtlinge in der Ägäis gerettet. Sie hatten versucht, mit kleinen, kaum seetauglichen Booten nach Griechenland zu gelangen.
Kritik an EU-Flüchtlingspolitik
Deutschlands Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat indessen die Flüchtlingspolitik der EU kritisiert und die Ernennung eines zuständigen Kommissars verlangt. „Bei einer Naturkatastrophe hätte die EU längst reagiert“, so Müller in der „Passauer Neuen Presse“. Die EU-Kommission müsse sofort vom Urlaubs- auf den Notstandsmodus umschalten. Aus EU-Töpfen sollten mindestens zehn Milliarden Euro für die Nachbarstaaten zur Verfügung gestellt werden, um die Fluchtwelle einzudämmen. Bereits bisher gibt es jedoch einen EU-Migrationskommissar. Zudem hat die EU-Kommission im Frühjahr eine „Agenda für Migration“ präsentiert, die unter anderem eine bessere Koordination zwischen den EU-Staaten beim Schutz der Außengrenzen sowie eine Kooperation mit den Herkunfts- und Transitländern der Flüchtlinge vorsieht. Viele Vorschläge wie die Aufteilung von Flüchtlingen nach Quoten wurden allerdings von den Mitgliedstaaten bisher abgelehnt.
Laut der EU-Grenzschutzagentur Frontex sind im Juli erstmals innerhalb eines Monats mehr als 100.000 Menschen in die EU geflüchtet. (ag/red.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2015)