Katrina reformierte die US-Kerkerhauptstadt

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New Orleans hatte das schlimmste Gefängnis der USA. Die Flut eröffnete die Chance, das radikal zu ändern.

„Ich hatte das Pech, am 29. August 2005 der Präsident eines Strafgerichts in New Orleans zu sein“, eröffnet Calvin Johnson, damals der erste afroamerikanische Richter in diesem Amt, das Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. „Ich wachte in der Früh auf und hatte kein Gerichtsgebäude mehr.“ Die Flutwellen von Hurrikan Katrina hatten Gerichtsgebäude, Polizeistationen und das Orleans Parish Prison, das größte Gefängnis der Stadt, zeitweise bis zu vier Meter unter Wasser gesetzt: „Wir hatten damals 6300 bis 6400 Häftlinge. Wir waren die Kerkerhauptstadt der USA. Und dann brach die Hölle aus, denn wir hatten keinen Plan dafür, diese Menschen zu evakuieren.“

Das Orleans Parish Prison, kurz OPP genannt, war schon vor der Flutkatastrophe landesweit berüchtigt für seine elenden Haftbedingungen. Nirgendwo anders in den USA wurden damals und werden noch heute so viele Menschen verhaftet wie in New Orleans. Und nirgendwo auf der Welt landen so viele Menschen hinter Gittern wie in den USA.

Katrina ließ diese bedenkliche Lage eskalieren. Die Wachen flohen. Es gab kein Essen, kein Wasser. Die Häftlinge wurden dann nach und nach auf Gefängnisse in ganz Louisiana verteilt. Dabei ging einiges gehörig schief. „Wir hatten keinen Platz für die weiblichen Gefangenen. Also endeten einige in Männergefängnissen. Viele von ihnen kaschierten ihre Brüste mit Klebeband und schoren sich die Haare, um sich vor Vergewaltigungen zu schützen.“ Die meisten der Insassen waren weder rechtskräftig verurteilt noch überhaupt angeklagt: „Als Katrina einschlug, saßen die meisten wegen Verwaltungsübertretungen im OPP, etwa deshalb, weil sie auf der Straße ohne Genehmigung Tarotkarten gelegt hatten. Man warf sie nun mit Mördern und anderen Schwerverbrechern zusammen“, sagt Katherine Mattes, Strafrechtsprofessorin an der Tulane University.

Es ist Johnsons Führungsstärke zu verdanken, dass New Orleans trotzdem binnen Monaten ein funktionierendes Strafjustizwesen erhielt – und zudem eines, das heute trotz aller Mängel viel gerechter und effizienter ist. Er beauftragte Mattes sowie drei weitere Professoren der Universitäten von Tulane und Loyola, die Pflichtverteidigung mittelloser Häftlinge zu organisieren. Dieser Teil der Strafjustiz von New Orleans war vor Katrina schwer dysfunktional: So bemaß sich die ohnehin nur magere Entlohnung der Anwälte an der Zahl der Verurteilungen. „Ein klarer Interessenkonflikt“, kritisiert Mattes. Der Großteil des Budgets für die Pflichtverteidiger wurde aus Verkehrsdelikten erlöst. Nach Katrina gab es aber keinen Verkehr, und so brach das System zusammen.

Ratten auf Koks. Das erwies sich als Glück im Unglück. Mattes und ihre Kollegen und Studenten konnten ein neues System aufbauen: „Die Finanzierung ist noch immer wackelig, aber zumindest ist das Pflichtverteidigerbüro nun energischer Rechtsvertretung verpflichtet – und es zieht junge, engagierte Juristen aus dem ganzen Land an.“

Zuerst aber mussten sie die gefluteten Beweismittelräume erkunden. „Man sagte uns, dass wir einen Raum nicht betreten sollten, denn dort sei eine kokainsüchtige Ratte unterwegs, die sich an den Drogen in den Beweismitteltüten gütlich tat. Ich habe sie nie gesehen – dafür aber eine Ratte, die konfisziertes Marihuana knabberte.“

Im November 2006 war Johnsons Gericht wieder im Vollbetrieb: „Wir waren eine der wenigen Sachen, die in dieser Ecke der Stadt voll funktionierten.“ Und auch für das Gefängniswesen erwies sich Katrina als Segen: „Für das OPP war das ein Wendepunkt“, sagt Jon Wool vom Vera Institute of Justice, das die Stadt bei Justizreformen berät. „Es war eine große Chance, die Denkweise über das Einsperren dadurch zu ändern, indem die gesamte physische Infrastruktur weggefegt wurde.“ Bürger und Kommunalpolitiker setzten durch, dass das neue OPP nur 1438 Insassen statt der geplanten 5000 aufnehmen können wird, sobald es im nächsten Jahr in Vollbetrieb geht. Weil die Polizei seit fünf Jahren für geringfügige Ordnungsstörungen und Marihuanabesitz nur gerichtliche Vorladungen austeilt, statt zu verhaften, bleibt tausenden Menschen in New Orleans der Gang durch das Justizwesen erspart. Das entlastet auch das knappe Stadtbudget. „Die Strafjustiz ist heute definitiv besser als vor Katrina“, sagt Mattes. Johnson pflichtet ihr bei: „Wir beginnen langsam einzusehen, dass wir nicht jeden einsperren müssen, der etwas Schlechtes getan hat.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2015)

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