"Zweiklassenmedizin ist in Österreich eine Tatsache"

(c) Clemens Fabry
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Von Wahlfreiheit bis Traditionalismus: Das heimische Gesundheitswesen zeichne sich durch Komplexität aus, meint Judit Simon, die erste Professorin für Gesundheitsökonomie in Österreich.

Wie packen Sie Österreichs Gesundheitssystem in drei Sätze?
Judit Simon: Mir fallen keine Sätze ein, aber Schlagworte: Komplexität, universelle Abdeckung, Wahlfreiheit, Fragmentierung, Traditionalismus und behandlungsorientiert.

Meint komplex ungleich?
Es gibt deutliche Abweichungen, etwa zwischen Stadt und Land oder regulär Versicherten und Zusatzversicherten. Das gibt es aber bis zu einem gewissen Grad in allen Gesundheitssystemen. Sogar in Großbritannien kennt man Unterschiede, die der Postleitzahl geschuldet sind – trotz eines ansonsten völlig zentralisierten Systems.

Ist das gerechtfertigt?
Ein gewisses Maß an Ungleichheit ist zumindest unvermeidbar. Das heißt nicht, dass es in einem weniger kleinteiligen System nicht möglich wäre, sie zu reduzieren.

Schaffen höhere Investitionen ein besseres Gesundheitswesen?
Ein Blick in die USA zeigt, dass Geld allein nicht der Schlüssel ist: Amerika hat die höchste Gesundheitsausgabenquote, die Resultate gehören aber bei weitem nicht zu den besten. Gelder gehören effizient und sozial gerecht verteilt.

Österreich gab 2013 fast 35 Milliarden Euro aus.
Ja, das waren 10,8 Prozent des BIP. 1960 lagen sie bei 4,4 Prozent. Dieser immense Anstieg über die Jahre ist in allen OECD-Ländern zu beobachten – und hat einen Punkt erreicht, wo es große Sorgen über die finanzielle Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme gibt.

Gehört das heimische System zu den „besten der Welt“?
In einem OECD-Bericht aus dem Jahr 2000 gelangte es auf Platz neun. Doch das Ranking wurde heftig kritisiert, da die Indikatoren als unzuverlässig eingestuft wurden. Die OECD selbst hat die Reihung dennoch nie aktualisiert.

Oft sind Patienten dem Wohlwollen von Bund, Ländern und Ärzten weitgehend ausgeliefert. Offiziell spricht man aber nicht von einer Zweiklassenmedizin.
Die Existenz einer Zweiklassenmedizin in Österreich ist eine Tatsache, immerhin haben mehr als eine Million Menschen eine zusätzliche private Krankenversicherung abgeschlossen. Was umstritten ist, sind ihre Auswirkungen und die Wege, die das Geld nimmt.

Ist bessere Medizin käuflich?
Ist es sicher, dass ein Marken-T-Shirt hochwertiger ist als ein 0815-Leiberl? Eine bessere Versorgung kann man zumindest im Sinn eines freundlicheren Umgangs und der Bequemlichkeit erwerben. Doch hängt am Ende des Tages die Gesundheit des Einzelnen von Vielem ab – nicht zuletzt vom Zufall.

Mit Beziehungen und Geld lassen sich OP-Termine aber durchaus vorverlegen, oder?
Hierzu gibt es eine Menge Gerüchte. Ich erinnere mich an eine Umfrage des Vereins für Konsumenteninformation, nach dem in einigen österreichischen Krankenhäusern Privatpatienten bei Operationen wegen Grauen Stars bevorzugt behandelt wurden. Ich will aber nicht alle Anbieter und Eingriffe ohne weitere Beweise in einen Topf werfen. Aktuell gibt es Gesetzesinitiativen, um Wartezeiten in Spitälern transparenter zu machen; hoffentlich helfen sie, diese Art der Bevorzugung abzuschaffen.

Auch jetzt ist es verboten, Privatversicherte besser zu versorgen.
Aus juristischer Sicht müssen Privatpatienten dieselbe Behandlung erhalten wie normal versicherte Personen. Ich wäre aber überrascht, wenn nicht in manchen Fällen Ausnahmen gemacht würden. Geht es um die Frage der Gerechtigkeit, ist es das Wichtigste, dass jeder freien Zugang zur nötigen Grundausstattung von Gesundheitsdienstleistungen hat. Das heißt, dass es eine universelle Abdeckung gibt. In Österreich ist das selbstverständlich – so wie auch die untypisch große Freiheit, sich Fachärzte selbst auszusuchen.

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