Staatsanwältin Nittel: „Es wird alles und jedes angezeigt“

Weisungsrecht neu: Nittel wäre ein unabhängiger Bundesstaatsanwalt lieber gewesen.
Weisungsrecht neu: Nittel wäre ein unabhängiger Bundesstaatsanwalt lieber gewesen. Clemens Fabry / Die Presse
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Interview. Maria-Luise Nittel leitet in Wien die Staatsanwaltschaft „parteifrei“. Bürger hingegen äußern ihre Kritik an Autoritäten heute mit Anzeigen gegen Richter und Ankläger.

Die Presse: Die Staatsanwaltschaft Wien ist die größte Anklagebehörde Österreichs, kämpfte lange mit Personalproblemen. Wie sieht es derzeit aus?

Maria-Luise Nittel: Nach Jahren der Unterbesetzung sind genug Richteramtsanwärter ausgebildet (Staatsanwälte werden wie Richter ausgebildet, Anm. d. Red.). Wir sind 104 Personen, das macht 99 Vollzeit-Planstellen. Das ist erfreulich. Aber wir könnten noch zehn weitere Staatsanwälte beschäftigen.

Seit zwei 20 Jahren bewegt sich die Zahl der Anzeigen im Sprengel Wien/Niederösterreich/Burgenland auf dem gleichen Niveau. Die Staatsanwaltschaften verzeichnen aber nur mehr 14.000, statt wie damals 30.000 Verurteilungen. Warum?

Die Struktur der Anzeigen hat sich stark gewandelt. Es wird alles und jedes angezeigt. Viele Unzufriedene machen Anzeigen wegen Amtsmissbrauchs. Die Qualität der staatsanwaltlichen Arbeit hängt nicht von der Zahl der Verurteilungen ab. Primär müssen wir aufklären, nicht anklagen.

Blockieren die Bürger die Justiz?

Es ist das Recht der Bürger anzuzeigen. Manchmal haben wir richtige Anzeigenketten. Wenn ein Staatsanwalt ein Verfahren einstellt, wird er wegen Amtsmissbrauchs angezeigt. Gibt ein Richter einem Antrag auf Verfahrensfortführung nicht statt, wird auch er angezeigt. Vielleicht haben die Bürger Autoritäten früher eher akzeptiert. Heute macht man Anzeigen.

<b>Maria-Luise Nittel </b>(im Bild mit den ''Presse''-Redakteueren Manfred Seeh und Andreas Wetz) begann ihre juristische Karriere als Staatsanwältin im Bezirksgericht Hernals, später war sie dort auch Richterin. 1988 wechselte sie zur Staatsanwaltschaft Wien, ein Jahrzehnt später avancierte sie zur Oberstaatsanwaltschaft, wo sie 2003 stellvertretende Leiterin wurde. Seit 1. August 2009 ist die 57-jährige Hofrätin und Mutter zweier erwachsener Kinder Leiterin der Staatsanwaltschaft Wien, der größten Anklagebehörde des Landes. Derzeit stehen dort 104 Personen unter ihrer Leitung.
Maria-Luise Nittel (im Bild mit den ''Presse''-Redakteueren Manfred Seeh und Andreas Wetz) begann ihre juristische Karriere als Staatsanwältin im Bezirksgericht Hernals, später war sie dort auch Richterin. 1988 wechselte sie zur Staatsanwaltschaft Wien, ein Jahrzehnt später avancierte sie zur Oberstaatsanwaltschaft, wo sie 2003 stellvertretende Leiterin wurde. Seit 1. August 2009 ist die 57-jährige Hofrätin und Mutter zweier erwachsener Kinder Leiterin der Staatsanwaltschaft Wien, der größten Anklagebehörde des Landes. Derzeit stehen dort 104 Personen unter ihrer Leitung.Clemens Fabry / Die Presse

Thema Weisungsrecht. Die Reform hat die Schaffung eines Beratungsgremiums („Weisungsrat“) für den Justizminister hervorgebracht, das hat aber nichts daran geändert, dass die oberste Weisungsbefugnis beim Justizminister und damit bei einem politischem Akteur geblieben ist. Enttäuscht?

Uns gefällt die Eindämmung der Berichtspflichten. Wir müssen nicht mehr über jeden beabsichtigten Ermittlungsschritt nach oben berichten, sondern nur über die Enderledigung.

Dafür nehmen Sie in Kauf, dass Ihnen ein Politiker Weisungen gibt?

Dass sich die Weisungsspitze nicht in laufende Ermittlungsverfahren einbringt und uns ein Verfahren führen lässt, ist ein wesentlicher Schritt. Nach alter Regelung müssen wir vor jedem einzelnen Ermittlungsschritt berichten.

Also sind Sie schon dort, wo sie hin wollen?

Mir persönlich wäre eine andere Lösung als eine politische lieber. Etwa ein von der Politik unabhängiger Bundesstaatsanwalt. Wenn man das Weisungsrecht aber von der Politik nicht wegbringt, ist der Weisungsrat – Experten sehen sich den Endbericht der Staatsanwaltschaft an – ein wichtiger Schritt.

Wie ist das Verhältnis der Staatsanwaltschaft Wien zur Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA). Es gab ja Spannungen, Motto: Da die einfachen Staatsanwälte, dort die Elite-Ankläger. Etliche Leute Ihrer Behörde sind zur WKStA abgewandert.

Zirka 15 Kolleginnen und Kollegen sind hinüber gegangen. Die WKStA hat ja auch Planstellen für Oberstaatsanwälte.

Dort winkt also der Amtstitel Oberstaatsanwalt und somit mehr Geld. Kein Wunder, dass die Leute abwandern.

Aber manche machen es trotzdem nicht, weil sie hier etwa Gruppenleiter sind und gerne junge Staatsanwälte ausbilden. Oder weil sie gerne verhandeln (in öffentlicher Verhandlung die Anklage vertreten, Anm.). Die WKStA verhandelt viel weniger. Aber es steht jedem Kollegen, jeder Kollegin frei, sich hin zu bewerben.

Das sieht nach Karriereschritt aus – von der Staatsanwaltschaft Wien zur WKStA zu kommen?

Nicht unbedingt. Es ist eine andere Art der Arbeit. Es werden dort fast ausschließlich Großverfahren geführt. Man arbeitet dort auch häufig in Teams.

Funktioniert die Zusammenarbeit mit der Polizei?

In Wirtschaftsstrafsachen wären mehr gut ausgebildete Ermittler wünschenswert. Zum Beispiel Beamte, die Bilanzen lesen können und sich im Gesellschaftsrecht gut auskennen. Wir würden uns auch wünschen, dass Sonderkommissionen aus noch mehr Polizeibeamten bestehen.

Wiens Polizisten werden immer wieder Misshandlungen bei Festnahmen vorgeworfen. Abgesehen vom jüngsten Fall, in dem Beamte einen Gefesselten zu Boden warfen, gibt es das Silvesternacht-Video: Eine Frau wird von Polizisten verletzt. Die Staatsanwaltschaft beantragte eine Bestrafung der Frau wegen Widerstandes – ohne Vernehmung der Beamten. Hat Ihre Behörde zu viel Nähe zum Polizeiapparat?

Nein, bei ca. 9000 Polizisten und 100 Staatsanwälten in Wien kann es keine Nähe geben. Und im konkreten Fall habe ich mich schon entschuldigt. Da waren wir vorschnell. Wir ziehen künftig den Vorwurf des Widerstandes und den der Misshandlung zusammen, es soll keine getrennte Sachbearbeitung geben.

Die Misshandlungen durch Exekutivorgane blieben in den vergangenen Jahren zahlenmäßig konstant. Es kommt aber nur ein Prozent zur Anklage. Das ist doch ein Zeichen von zu wenig Distanz zur Polizei.

Wir können nicht von vornherein davon ausgehen, dass das, was in den Polizeiberichten geschrieben wird, falsch ist. Wenn der Bericht schlüssig keine Misshandlungen aufzeigt, muss das Verfahren eben eingestellt werden.

Der Bericht kommt aber von der Polizei, von genau jener Stelle, die unter Verdacht steht.

Dafür gibt es aber bei der Polizei Sondereinheiten wie das Büro für besondere Ermittlungen oder das Bundesamt zur Korruptionsbekämpfung. Jeden Fall zu hinterfragen, übersteigt unsere Kapazitäten.

Vor Wahlen wird gern versucht, eine Staatsanwaltschaft zu instrumentalisieren, dann heißt es: Politisch heikle Anklage würden rechtzeitig vor der Wahl eingebracht oder bis nach der Wahl zurückgehalten. Dürfen wir vor der Wien-Wahl wieder mit diesem Ritual rechnen?

Die Staatsanwaltschaft führt keine Wahlkämpfe. Diese haben keinen Einfluss auf unsere Arbeit. Allerdings steht in einem Wahlkampf unsere Arbeit mehr im Fokus. Das ist politisches Kalkül.

Immer wieder ist aber von der „roten“ Wiener Staatsanwaltschaft die Rede.

Mittlerweile weiß jeder, dass ich parteifrei bin.

Es soll einen politisch ausgerichteten Zirkel rund um den Anwalt Gabriel Lansky gegeben haben.

Wenn es je so etwas gab, war ich nie dabei. Offenbar kommt die Bezeichnung davon, dass der Herr Doktor Lansky einer bestimmten Partei zugeordnet wird (Anwalt Gabriel Lansky gilt als SPÖ-nahe, Anm.). Bei uns arbeiten derzeit zwei Staatsanwältinnen, die kurz in der Kanzlei Lansky tätig waren. Die Kolleginnen sind aber unpolitisch. Und haben mit sogenannten politischen Causen nichts zu tun.

Was wurde eigentlich aus der Ankündigung der Minister Brandstetter und Mikl-Leitner Spezialstaatsanwälte zur Schlepperbekämpfung zu installieren?

Im Sprengel der Oberstaatsanwaltschaft Wien nimmt das Schlepper-Problem massiv zu. Es betrifft aber eher die Staatsanwaltschaften Eisenstadt und Wiener Neustadt. Wir in Wien haben durch unsere Binnenlage nur wenige Fälle.

Also kommen doch keine Spezialisten?

Spezialisierte Staatsanwälte wird es voraussichtlich nicht geben. Es wird aber einen Kontakt-Staatsanwalt, also einen Ansprechpartner für die Polizei geben.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 25. August 2015)

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