Filmfestival Cannes: Gottlose Zeiten an der Croisette

Vengeance
Vengeance(c) Filmfestival Cannes
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Gewalt und Leidenschaft: Von Bellocchios Meisterwerk "Vincere" über Mussolinis erste Frau zu Lars von Triers lächerlichem "Antichrist". Actionspezialist Johnnie To gelang mit "Vengeance" ein meisterhafter Genrefilm.

Benito Mussolini legt seine Uhr auf den Tisch und sagt: „Ich fordere Gott heraus. Ich gebe ihm fünf Minuten, um mich zu niederzustrecken. Wenn mir bis dahin nichts geschieht, ist das der Beweis, dass Gott nicht existiert.“

So beginnt der Italiener Marco Bellocchio seinen überwältigenden Film Vincere, der im Wettbewerb von Cannes einschlug, als wollte Bellocchio selber die Götter des Kinos herausfordern: Neben der visuellen Erfindungskraft und opernhaften Wucht seines Porträts der vergessenen ersten Frau Mussolinis verblasst die Konkurrenz. Andere Filmemacher sind da, um die Goldene Palme zu gewinnen, aber Bellocchio scheint gar (Film-)Geschichte schreiben zu wollen.

Dabei mangelte es in Cannes zuvor nicht an Gesprächsstoff. Einerseits kamen renommierte Regisseure mit fröhlichen Publikumslieblinge, denen aber Substanz fehlte. Der Brite Ken Loach kreuzte in Looking for Eric bewährten Sozialrealismus mit einer Fußballerfantasie: Sportstar Eric Cantona erscheint der eingerauchten Hauptfigur und gibt ihr Ratschläge. Der US-Taiwanese Ang Lee zimmerte in Taking Woodstock aus den Hintergründen des legendären Musikfestivals eine liebenswerte Hymne an Hippie-Ideale, idealisierte aber Freiheitsliebe und Gemeinschaftsgeist oft bis zum Klischee.

Andererseits gab es finsteres Futter für Kontroversen: Der Filipino Brillante Mendozas schilderte im überanstrengten Gewissensdrama Kinatay Entführung, Folter und Zerstückelung einer Prostituierten, wurde aber sofort vom dänischen Provokateur Lars von Trier übertrumpft. Der schickte in Antichrist ein traumatisiertes Paar (Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg) in eine Waldhütte, wo skandinavische Seelensuche bald in hemmungslose Horrorszenen entgleist, Genitalverstümmelung inklusive. Der absichtlich geschmacklose Film ist aber unmöglich ernst zu nehmen: Lachsalven begleiteten nicht erst die Schlusswidmung an den russischen Kunstfilmer Andrei Tarkowski.

Actionspezialist Johnnie To aus Hongkong gelang ein meisterhafter Genrefilm: In Vengeance kommt ein Franzose (ikonisch: Johnny Hallyday) nach Macao, um Rache zu nehmen. Seine Konfrontationen mit Killern sind virtuos choreografiert, als elegantes Ballett der Blicke und Bewegungen, in das sich Naturerscheinungen nahtlos einfügen: Der Schein des Mondlichts oder ein Windstoß entscheiden in diesem gefühlvollen Thriller über Leben und Tod.

Bei aller Brillanz wirkt selbst Vengeance konventionell neben Vincere: Die Geschichte von Ida Dalser, die Mussolini 1915 heiratete und ihm einen Sohn gebar, dann aber vom Duce verleugnet und (wie das gemeinsame Kind) in einer Anstalt weggesperrt wurde, ist der perfekte Stoff für die Obsessionen von Veteran Bellocchio, der in der historischen Episode auch Italiens Gegenwart spiegelt: Zu Gewalt und Leidenschaft kommt eine beißende Analyse gesellschaftlicher Veränderungen und verratener Ideale – sowie faschistischer Ästhetik und revolutionärer Bilderpolitik. Mussolinis mediale Selbstinszenierung und der Einfluss des Kinos spielen eine Schlüsselrolle im Film. Und der zukünftige Duce überlebt zwar die fünf Minuten nach seiner Herausforderung an Gott, aber am Ende wird eine große Bronzebüste mit seinem Gesicht zermalmt.

ÖSTERREICHER IN CANNES

Michael Hanekes Wettbewerbsfilm „Das weiße Band“ läuft am Donnerstag; der zweite österreichische Film in Cannes wurde am Dienstag in der Sektion „Quinzaine des Réalisateurs“ vorgestellt – und wohlwollend aufgenommen: das Dokudrama „La pivellina“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2009)

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