Für die Wissenschaft sind Modelle unverzichtbar: um Annahmen zur Realität verkleinert oder vereinfacht darzustellen. In der Archäologie haben Computermodelle inzwischen Ausgrabungen weitgehend ersetzt.
Ausgegraben wird heute kaum noch etwas. Und wenn, nicht mit dem Pinsel. Wenn Archäologen ans Werk gehen, arbeiten sie entweder weit handfester: Mit Bagger, Spaten und Spitzhacke heben sie große Flächen aus. Oder sie agieren deutlich sanfter: Mit sogenannten nicht invasiven, also zerstörungsfreien Methoden analysieren sie aus der Luft oder vom Boden aus, was sich darunter befindet. Das ist mittlerweile fast die Regel. Denn so lassen sich lebensnahe Modelle zu jahrhundertealtem Kulturerbe unter der Erde bilden.
Modelle sind ein unverzichtbares Werkzeug in der Wissenschaft. Sie beruhen auf Annahmen, die ständig überprüft und erneuert werden. So formt sich nach und nach ein Bild: davon, wie Atome zusammenhalten, ein Pendel schwingt oder eben eine Grabanlage aussieht, die unter der Erde liegt. Modelle stehen am Beginn jeder Forschung. Ihre Bedeutung war gestern, Freitag, auch Thema eines Arbeitskreises bei den Alpbacher Technologiegesprächen.
„In der Archäologie rekonstruiert man die Geschichte des Menschen anhand dessen, was er hinterlassen hat, also Gegenstände oder Baustrukturen“, sagt Archäologe Wolfgang Neubauer, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts (LBI) für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie (Arch Pro). Er untersucht mit seinem Team ganze archäologische Landschaften. Mit geophysikalischen Methoden erkundet er etwa Wikingerrelikte in Skandinavien und die Umgebung des Steinkreises von Stonehenge.
Unterirdische Überraschungen
Ganz ohne zu graben entdeckte er 2011 etwa eine Gladiatorenschule in Carnuntum, dem wohl am besten untersuchten archäologischen Gebiet in Österreich. Das war nicht nur deshalb überraschend, sondern auch, weil man bis dahin davon ausgegangen war, dass es zwar in Rom mehrere Gladiatorenschulen gab, in den Provinzen aber eher mobile Gruppen von Ort zu Ort zogen und die Spiele ausrichteten. Die Forscher haben Fakten gesammelt, ihre Hypothesen getestet und konnten schließlich sogar zwei- und dreidimensionale Modelle liefern, wie die Gladiatorenschule vermutlich ausgesehen hat.
Eine wichtige Basis für die Entdeckung bildeten Luftaufnahmen. Denn aus der Vogelperspektive lassen sich Charakteristika auf der Erde, etwa Verfärbungen des Bodens, untypische Schatten oder ungewöhnlich wachsendes Getreide deutlich leichter erkennen.
Fotos aus dem Flugzeug
Vom Flugzeug aus wird ein Gebiet mit einer Vielzahl von Fotos erfasst. Neue Methoden wie das Hyperspektralscreening erzeugen Bilder im Infrarot- bis Ultraviolettbereich, um den Untergrund noch genauer abzubilden.
Mit sogenannten Airborne-Laserscannern wird die Oberfläche aus der Luft abgetastet: „Die Oberfläche reflektiert einen Infrarotstrahl, so lässt sich die Distanz zum Boden bestimmen, ein topografisches Modell der Oberfläche entsteht“, sagt Neubauer. In Österreich wird die Methode zwar angewendet, aber in vielen Gebieten versperrt der Wald die Sicht auf architektonische Fundstellen. Die Forscher am LBI arbeiten daher an neuen Verfahren, um die Vegetation aus den Daten zu entfernen.
Vom Boden aus sucht man an archäologischen Stätten etwa mithilfe elektromagnetischer Wellen. Bei diesen sogenannten Bodenradarmessungen werden die Impulse in den Untergrund gesendet, wo sie an Gegenständen reflektieren. Ähnlich wie beim Ultraschall in der Medizin lässt sich so ein dreidimensionales Bild zeichnen.
Geomagnetische Messungen wiederum nutzen das Magnetfeld der Erde. Mit ihnen kann man noch tiefer in den Boden blicken, Straßen, Häuser oder einen Burggraben abbilden. Haben die Römer auf Stein oder auf Sand gebaut? Auch das lässt sich feststellen.
Die Methoden, mit denen die Forscher Bilder ihrer Entdeckungen zeichnen, haben sie alle selbst entwickelt. „Unsere Anforderungen überfordern handelsübliche Software, wir haben daher seit 1991 alles selbst programmiert“, sagt Neubauer. Daher arbeiten am LBI auch sehr viele Informatiker. Aus großen Datenmengen entstehen so auf dem Computer Modelle einer längst vergangenen Wirklichkeit.
Große Flächen erkunden
Mit den neuen Prospektions-, also Erkundungsmethoden lassen sich jedenfalls große Flächen effizient untersuchen. In Stonehenge waren es gleich zwölf Quadratkilometer, auf denen mit magnetischen Sensoren und Bodenradar gearbeitet wurde. Dort entdeckte Neubauer gemeinsam mit britischen Partnern verborgene Strukturen wie Grabhügel und 17 bislang unbekannte Monumente. Selbst in mehreren Monaten Grabung ließe sich nur ein sehr kleiner Bruchteil dessen erkunden, was aus der Luft oder vom Boden aus möglich sei, sagt er. Zudem bleiben die Objekte unversehrt. „Eine Grabung hinterlässt ein Loch der Zerstörung, am Ende bleibt wenig von der entdeckten Wirklichkeit“, sagt der Forscher.
Wann und wo man gräbt, überlegt man heute also sehr genau – nicht zuletzt wegen der hohen Kosten. Werfen nicht invasive Methoden neue Fragen auf, wird auch heute noch gegraben – allerdings basierend auf den Modellen weit gezielter als das sonst möglich wäre.
Lexikon
Prospektion kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Ausschau halten. In der Archäologie ist die Erkundung und Erfassung von archäologischen Stätten in einem bestimmten Gebiet gemeint.
Nicht invasive Methoden sind zerstörungsfreie Methoden, mit denen archäologische Fundstellen aus der Luft und vom Boden aus rekonstruiert werden. Sie ersetzen heute Ausgrabungen bereits weitgehend.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2015)