Ein Bild raubt den Toten nicht die Würde

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Die Veröffentlichung eines Fotos toter Flüchtlinge in der „Kronen Zeitung“ löste Empörung aus. In der emotionellen Auseinandersetzung darüber werden aber drei Ebenen vermischt, die nur wenig miteinander zu tun haben.

Die „Kronen Zeitung“ hat vor einer Woche ein Bild von den toten Flüchtlingen auf der Ladefläche des bei Parndorf entdeckten Kühlwagens veröffentlicht. Nun wird sie von einer Welle der Empörung überrollt. Mein Versuch der Mitempörung war wenig erfolgreich, denn es gibt Situationen, da werden Gefühle so übermächtig, dass man wagen sollte, diese emotionale Versuchung mit ein wenig Vernunft im Zaum zu halten. Erst Argumente und Vorurteile überprüfen, dann erst empören, das scheint mir nötig, wenn man sich bei einem Thema auf vermintem Meinungsgelände bewegt.

Bilderverbot oder Bildergebot?

Meine Probleme beim Schreiben dieses Kommentars begannen mit dem Einleitungssatz. Wie bezeichne ich das Bild? Sind Worte wie „Tragödie“ oder „Drama“ angebracht und adäquat? Oder sind das abgedroschene Begriffe, mit denen man sich ganz automatisch aufs Terrain des Boulevards begibt?

Muss man als Schreibender vielleicht zur Kenntnis nehmen, dass manche Ereignisse sich der (notgedrungen verbalen) Beschreibung entziehen, da wir in unserer evolutionären Entwicklung nie eine sprachliche Form der angemessenen Bezeichnung entwickelt haben? Gehen uns angesichts des Unglaublichen die Worte aus? Wird das Unglaubliche zum Unsagbaren? Gilt dann gar Wittgensteins „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“?

Und wenn das gilt, entsteht daraus logisch weitergedacht ein Bilderverbot oder nicht eher das Gegenteil: ein Bildergebot, wenn man einen unsagbaren Sachverhalt mitteilen will? Andernfalls gälte ein absolutes Mitteilungsverbot für bestimmte Ereignisse.

Dass Bilder stärker sind als Worte, stimmt so nicht. Wir merken uns Bilder bloß besser. Wir kennen das aus Filmen. Die engen die Fantasie ein, weil Bilder sich stärker einprägen. Verfilmte Romane enttäuschen oft, sie nehmen uns unsere bisherige Vorstellung davon, wie eine Figur aussieht.

Unsere Gedanken fügen den Worten eigene Bilder hinzu. Insofern sind Worte stärker als Bilder, sie lassen uns mehr Möglichkeiten, im Gehirn Realität zu konstruieren. Kein Film erreicht die Tollkühnheit unserer Gedanken. Im Schwarz-Weiß-Film erscheint Blut uns grausiger als im Farbfilm. Denn unser Gehirn muss die Farbe addieren.

Es stellt sich also die Frage, ob die bloß verbale Beschreibung eingepferchter Leichname nicht mehr Voyeurismus im Menschen freisetzt und bedient als ein Bild, das die Dinge auf den Punkt bringt und wenig Raum lässt für eigene Imaginationen. Die Veröffentlichung von Bildern löst Empörung aus, die Beschreibung eines Szenarios nicht. Wird da – gemessen an der Wirkungskraft – nicht ein falscher Maßstab angelegt?

In der emotionellen Auseinandersetzung – Debatte kann man es fast nicht nennen – werden drei Ebenen vermischt, die wenig miteinander zu tun haben: Die Motive der „Krone“, das Bild zu bringen; die Frage der Menschenwürde sowie auf welche Art die „Krone“ zu dem Bild kam. Die Motive der „Krone“ halte ich für unerheblich. Erstens können wir sie nicht objektiv feststellen. Zweitens sind Absicht und Ergebnis oft nicht ident. Ein „schlechtes“ Motiv kann gute Folgen haben, ein „gutes“ im Desaster enden. Frei nach Goethe: „Der Boulevard als Kraft, die mitunter Böses tut und dabei manchmal trotzdem Gutes schafft.“

Auch der Vorwurf der „Lust an der Sensation“ geht daneben. Jede Schlagzeile bedient diese Lust, es ist geradezu das Wesen der Schlagzeile. Wird hier überreagiert, weil man die eigenen, atavistischen Triebe fühlt und auf die „Krone“ einschlagend Buße tut für eigene Sensationslust? Immerhin sind wir ein Land mit noch immer funktionierenden katholischen Reflexen.

Verletzte Menschenwürde?

Die meisten Vorwürfe werden mit dem Argument der „verletzten Menschenwürde“ untermauert. Aber was ist Menschenwürde? Meines Erachtens hat dieser Begriff nur dann Sinn, wenn der einzelne Mensch für sich selbst definieren kann, worin seine Würde besteht. Eine Definition durch andere würde diese Würde bereits beschränken. Die Würde ist etwas in mir, das kann mir niemand nehmen. Sonst würde ich die Macht über meine Würde verlieren. Jeder könnte sie für immer beschädigen, dauerhaft verletzen. Eine absurde Vorstellung. Die Nazis haben versucht, den Attentätern des 20.Juli ihre Menschenwürde zu nehmen, indem man sie mittels auf Fleischerhaken angebrachter Drahtseile besonders grausam henkte, anstatt ihnen einen „soldatischen“ Tod durch Erschießen zu „gewähren“. Haben sie dadurch ihre Menschenwürde verloren? Sicher nicht, andernfalls hätten die Nazis gewonnen.

Wurde dem nackten vietnamesischen Mädchen, das vor den Napalmbomben flüchtete, durch das berühmte Bild die Würde gestohlen? Hat dieses Bild nicht mit dazu beigetragen, den Vietnam-Krieg zu beenden? Nur weil die „Krone“ dieses Argument auch verwendet, wird es nicht falsch.

Man ist gegenüber der „Krone“ überhaupt recht ambivalent. Kampagnen gegen TTIP oder Kernkraft: Juhu! Auch wenn man sonst nicht müde wird, die „Krone“-Kampagnen zu geißeln. Entweder ist man für Kampagnen oder dagegen. Die Differenzierung der Beurteilung je nach Thema ist Heuchelei.

Ich empfand es als würdelos, meine Bücher aus der Schülerlade borgen zu müssen. Oder mir bei der Caritas Geld für den Schulanfang zu „erbetteln“. Ich habe mir durch meine Scham jedoch selbst die Würde genommen. Die Schulbuchaktion gab mir dann meine Würde zurück, weil ich in der Buchhandlung den gleichen Scheck zückte wie alle anderen.

Emotion und Vernunft

Daraus lernte ich: Niemand kann mir meine Würde nehmen, nur ich selbst. Was immer geschieht. Genau diese Souveränität über die Menschenwürde sollte man auch den toten Flüchtlingen zusprechen. Kein Bild kann ihnen ihre Würde rauben. Andernfalls würden auch die Bilder der Leichenberge aus den KZs den Ermordeten die Würde nehmen. Die Bilder wurden – mit gutem Grund und guten Folgen – veröffentlicht. Ich bin sicher: Das Bild hat bei vielen einen positiven Meinungsumschwung in Sachen Flüchtlinge bewirkt, die „Krone“ war damit wohl wirkungskräftiger als andere Medien.

Bleibt die Frage, wie die „Krone“ zu den Bildern kam. Das wird hoffentlich geklärt. Sollte es einen Abtausch zwischen „Krone“ und bestimmten Polizeikreisen geben, hier Bild, dort genehme Berichterstattung, dann wäre das eine schlimme Sache. Das ändert aber nichts an der positiven Wirkung der Veröffentlichung.

Ich behaupte nicht, recht zu haben. Meine Argumente sind nur ein notwendiger Versuch, der Vernunft Gehör zu verschaffen inmitten durchaus verständlicher Gefühle. Wir müssen Emotion und Vernunft in ein ausgewogenes Verhältnis bringen. Andernfalls agieren wir so, wie man es der „Krone“ gern vorwirft.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Michael Amon
(*1954 in Wien) lebt als freier Autor in Gmunden und Wien. Der Romancier und Essayist ist außerdem geschäftsführender Gesellschafter einer kleinen Steuerberatungskanzlei. Zuletzt erschienen zwei Bücher von ihm: „Panikroman“, sowohl Psychogramm eines Börsenhändlers als auch der Finanzmärkte, und „Nachruf verpflichtet“ als Band drei der „Wiener Bibliothek der Vergeblichkeiten“. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2015)

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