Der tote Bub am türkischen Strand

Soll man Bilder von Leichen zeigen, um die Welt wachzurütteln? Nein, man sollte dieser Versuchung widerstehen. Denn ein Journalist ist kein Aktionist.

Die britischen Zeitungen, ob Qualitätsblatt oder Boulevard, haben es gebracht: vom „Guardian“ über den „Independent“ bis „Daily Mail“. „Le Monde“ hat es getan. Die deutsche „Bild“-Zeitung hat dafür ihre ganze letzte Seite, üblicherweise den Stars und Sternchen vorbehalten, leer geräumt. Für jenes Foto, das einen dreijährigen syrisch-kurdischen Buben tot am Strand der türkischen Küste zeigt – beziehungsweise, wie er von einem Polizisten weggetragen wird. In rotem T-Shirt, blauer Hose, die Schuhe noch an. Ertrunken im Mittelmeer. Ein Bild, das in seiner Eindringlichkeit zu Tränen rührt.

Darf man das? Ein solches Bild zeigen? Soll man es sogar? Dieses Bild, so hieß es gestern in diversen Medien und Online-Plattformen, werde das Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit in Bezug auf das Flüchtlingsdrama verändern.

Und es spricht auch einiges dafür: In Großbritannien, bisher in strikter Abwehrhaltung, könnte dieses in vielen großen Zeitungen des Landes publizierte Schockfoto tatsächlich ein Umdenken bewirken.

Wie es auch in der Vergangenheit immer wieder der Fall war: So war die Wende in der öffentlichen Wahrnehmung im Vietnam-Krieg nicht zuletzt auf zwei Fotos zurückzuführen: jenes, das ein nacktes Mädchen auf der Flucht vor einer Napalm-Wolke zeigt. Und jenes, das den Polizeichef von Saigon dabei zeigt, wie er seine Pistole auf den Kopf eines Vietcong-Kämpfers richtet, den er dann tatsächlich vor den Augen der Reporter erschießt.


Ein gewisses Maß an Heuchelei ist natürlich dabei, wenn jene, die den Shitstorm gegen die „Kronen Zeitung“ – sie hatte die ineinanderverkeilten Leichen im nahe Parndorf abgestellten Schlepper-Lkw gezeigt – noch empört mitentfachten, das erschütternde Bild des toten Buben am Mittelmeerstrand nun zum notwendigen Zeichen umdeuten, um die Öffentlichkeit wachzurütteln.

Nun könnte man einwenden: Es ist eben entscheidend, wer etwas macht. Ein Boulevardblatt, um die Sensationsgier zu befriedigen und Auflage zu machen. Oder eine Qualitätszeitung, die sich der Aufklärung zum Aufrütteln verschrieben hat. Nur: Das verfängt hier nicht. In England haben wie gesagt sowohl Boulevard- als auch Qualitätsmedien das Bild des kleinen ertrunkenen Syrers auf das Cover gehoben. Und der „Krone“ könnte man – abgesehen von der Frage, wie sie zu dem Foto gekommen ist – auch zugutehalten, dass sie mit diesem drastischen Bild der Leichen im Lkw nur ihr seit Wochen wichtigstes Anliegen voranbringen wollte: den Kampf gegen die Schleppermafia.

Freilich könnte man jetzt wieder einhaken, es handle sich dabei eben um eine Kampagne. Aber machen die Qualitätsmedien, die mit dem Bild des toten Buben nur die Öffentlichkeit erschüttern wollen, nicht auch Ähnliches?

Aufgabe des Journalismus, des seriösen Journalismus jedenfalls, der sich von Fakten und weniger von Gefühlen leiten lässt, sollte es sein, einfach zu berichten, was ist. Und von emotionaler Überladung – und Fotos, dramatische noch dazu, sind hier ein Mittel zum Zweck – eher Abstand nehmen.

Der Journalist sollte nicht selbst zum Aktionisten werden. Auch nicht zu einem für eine bessere Welt. Er sollte sich, wie es so schön heißt, nicht mit einer Sache gemein machen – auch nicht mit einer guten Sache.

Abgesehen davon, dass die Veröffentlichung von Fotos gegen den Willen der Betroffenen deren Privatsphäre verletzt. Erst recht, wenn es sich um Tote handelt, die hier instrumentalisiert werden. Da braucht man gar nicht erst antiquiert klingende Begriff wie die Störung der Totenruhe zu bemühen.

Natürlich ist es nicht zu verhindern, dass solche Bilder publiziert werden. Über das Internet finden diese heute in Sekundenschnelle Verbreitung – noch ehe die traditionelle Tageszeitung auf dem Frühstückstisch liegt, deren Redakteure sich stundenlang den Kopf zerbrochen haben, ob sie das Bild aus Pietätsgründen nun bringen sollen oder nicht.

Man muss nicht überall mitmachen. Diese Zeitung zeigt – wenn es sich irgendwie vermeiden lässt – keine Leichen. Schon gar keine von Kindern.

E-Mails an: oliver.pink@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2015)

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