EU-Referendum: Briten wenden sich von EU ab

Nigel Farage
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Europa-Gegner dominieren die Debatte in Großbritannien, während Premier David Cameron schweigt. Die Folge: Erstmals zeigt eine Umfrage die EU-Austrittsfront voran.

London. „Ereignisse, mein alter Junge, Ereignisse“, seufzte der konservative britische Premierminister Harold Macmillan (1957–63), als er gefragt wurde, was politisches Glück bestimme. Von Ereignissen überrollen lässt sich dieser Tage auch einer seiner Nachfolger in 10 Downing Street: Premierminister David Cameron reagiert auf die Flüchtlingskrise in Europa so plan- und hilflos, dass erstmals seit November 2014 eine Umfrage mit 51,3 zu 48,7 Prozent eine Mehrheit der Briten den EU-Austritt befürwortet.

Während der Abstand zwischen den beiden Lagern hauchdünn ist, deutet die Umfrage auf eine klare Trendwende hin. Im Juli waren bei einer Umfrage desselben Instituts die Befürworter der EU-Mitgliedschaft mit 54 zu 45 Prozent noch klar in Führung gelegen. Dann aber passierten eben jene „Ereignisse“, von denen Macmillan einst stöhnte.

Während Europa mit hunderttausenden Flüchtlingen zu tun hatte, erlebte Großbritannien einen Sommer kollektiver Hysterie wegen rund 3000 Flüchtlingen, die in einem Lager bei Calais auf die Gelegenheit warteten, einen Zug nach Großbritannien zu besteigen. Während in Kontinentaleuropa Fotos von Bootsflüchtlingen für Erschütterung sorgten, entsetzten sich britische Medien über den „Leidensweg“, die „unzumutbaren Qualen“ oder den „Horrortrip“ regulärer Bahnreisender im Eurostar, die durch Flüchtlinge gestört wurden.

Als erste Ursache für die Ablehnung der EU nannten in der neuen Umfrage die Bürger denn auch das Thema Einwanderung. Obwohl das Foto eines ertrunkenen Kindes vor der türkischen Küste auch hierzulande einen zumindest vorübergehenden Sinneswandel auslöste (29 Prozent lehnen jede Aufnahme von Flüchtlingen ab, 15 Prozent sind für bis zu 3000), sehen viele Briten die EU-Mitgliedschaft zunehmend gleichbedeutend mit dem Verlust der Kontrolle über die eigenen Landesgrenzen. In diese Kerbe schlägt auch die Regierung.

Menschen direkt aus Syrien

In bewusster Abgrenzung von dem Geschehen auf dem Kontinent will Cameron nur Syrer aufnehmen, die direkt aus dem Land nach Großbritannien gebracht werden sollen. Seine Regierung spricht von einer „syrischen Flüchtlingskrise“, um nicht einmal indirekt daran erinnert zu werden, dass man als EU-Mitglied möglicherweise zu Solidarität aufgerufen wäre. Lieber wechselt man das Thema und spekuliert über Militärschläge, während man die Flüchtlingskrise in Europa vor allem als selbstverschuldete Folge der Integration (z.B. Schengen) sieht.

Dabei kann Cameron nur mit Entgegenkommen jener Europäer, die er gerade vor den Kopf stößt, ein Verhandlungsergebnis erreichen, mit dem er eine Volksabstimmung gewinnen kann. Weil die Opposition mit sich selbst beschäftigt ist und die Regierung jede Führung vermissen lässt, bestimmen momentan die konservativen EU-Gegner das Geschehen praktisch uneingeschränkt. Unter der Forderung nach „Fairness“ verlangen sie von der Regierung, auf jede Empfehlung für die Volksabstimmung zu verzichten. Sobald sie ein Zugeständnis bekommen haben, verlangen sie das nächste: In der gestrigen Parlamentssitzung verlangten 115 Konservative ein „Verbot jeder finanziellen Förderung der Ja-Kampagne aus EU-Mitteln“. Diese Position unterstützen besonders lautstark EU-Gegner wie der Unternehmer Aaron Banks, die bereits Millionen für das Nein-Lager mobilisiert haben.

Camerons Angst vor seinen EU-kritischen Hinterbänklern geht so weit, dass er nicht nur Verhandlungsstrategie und -ziele geheim hält. Nach einem Bericht der „Financial Times “ warnten Mitarbeiter des Premiers EU-Unterstützer aus der Wirtschaft, dass EU-freundliche Stellungnahmen zum gegenwärtigen Zeitpunkt „kontraproduktiv“ wären: „Die Botschaft lautet: Mund halten, bis wir einen Deal haben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2015)

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