Disziplin und das richtige Maß Euphorie: Teamchef Marcel Koller vereint Managerqualitäten mit Gespür für Zwischenmenschliches. Er bleibt trotz der historischen EM-Qualifikation Realist.
Wien. Für Österreich beginnt in Sachen Fußball eine neue Zeitrechnung. Erstmals hat sich das Nationalteam für eine Europameisterschaft qualifiziert. Mit dem 4:1-Sieg gegen Schweden wurde der bisherige Höhepunkt auch in der Ära von Teamchef Marcel Koller erreicht. Erfolg gibt jedem recht, vor allem in Österreich, wenn Historisches geschafft ist. Dass Koller die beste Spielergeneration seit Jahrzehnten zur Verfügung steht, ist ebenso unbestritten wie der individuelle Wandel und Reifeprozess jedes Einzelnen. Und dennoch, einer gibt hier die Richtung vor: Marcel Koller. Sein Erfolgssystem steht auf mehreren Säulen.
Der 54-jährige Schweizer glaubte an sein Team, er sah immer die Chance, „etwas Großes erreichen zu können“. Entgegen allen negativen Prognosen verlängerte Koller Ende Oktober 2013 seinen Vertrag. „Ich habe doch noch etwas mit meiner Mannschaft zu erledigen“, sagte er. Koller blieb – und feiert nun seinen größten Erfolg.
„Passt schon“, „wir haben es eh probiert“ oder „beim nächsten Mal wird alles besser“ – ihm sind die in Österreich geläufigen Antworten nach Niederlagen sehr wohl bekannt. Er musste sie auch ertragen, als sein Team 2013 in Schweden mit 1:2 an der WM-Qualifikation gescheitert war. Der Trainer kochte, der Züricher Erfolgsmanager zürnte, nach außen hin ließ er es niemanden spüren.
Disziplin, das richtige Maß Euphorie
Die Ära des Wehklagens, dass Córdoba (1978, 3:2 gegen Deutschland) oder auch die WM 1998 in Frankreich schon so lang her sind, ist vorbei. Das ÖFB-Team ist populär, Heimspiele sind ausverkauft, Stars wie David Alaba oder Marko Arnautović verkörpern wieder den Erfolg. Die Spieler werden angehimmelt – all das ist ein Erfolg, für den Koller verantwortlich zeichnet. Ein guter Trainer ist kein Hütchenaufsteller oder einer, der an der Seitenlinie „Gemma!“ brüllt. Es muss eine Führungsperson sein, mit innovativen Ideen. Ein Leader mit Charisma und der Vorstellung von modernem Fußball. Ein Mann mit Gespür. Einer, der sich von selbst ernannten Experten nichts einreden lässt.
Koller schenkte manchen Spielern trotz schlechter Teamleistungen und lang anhaltender Tiefs bei ihren Vereinen jahrelang Vertrauen. Das ermöglichte kollektiven Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis. Parallel dazu wuchs Begeisterung. Koller brachte aber auch erstmals Professionalität in die Darstellung nach außen. Die Auftritte der Mannschaft auf dem und abseits des Rasens wirken überlegt, es gibt kaum Einzelaktionen mehr. Trotz seines strikten Verlangens nach absoluter Disziplin vermittelt er auch weiterhin Spaß am Fußball. Die Spieler haben seine Regeln akzeptiert. Telefonieren bei Tisch wird sofort bestraft, öffentliches Raunzen ist ohnehin verboten.
Koller versteht Teamzusammenkünfte als „Begegnungen wie in einer Wohlfühloase“. Es kommen Aktive unterschiedlichen Alters zusammen, mit verschiedenen Interessen, Lebenserfahrungen, hohen Gehaltsschecks. Die Spanne reicht von 18 bis über 30 Jahre, manch einer habe da schon noch „Flauseln im Kopf“, sagte Koller in einem ersten Resümee. Als Familienvater aber habe er leichtes Spiel, selbst im Umgang mit den schwierigsten Charakteren. Torhüter Robert Almer sagt: „Er weiß, wann wir einen Tritt in den Hintern brauchen oder eben leisere Töne gefragt sind.“
Im Allzeithoch, aber immer ein Realist
Koller, der 2011 nach Stationen bei Wil, St.Gallen, Zürich, Köln, Bochum und einer zweijährigen Auszeit trotz lang anhaltender Proteste der Wiener Trainerszene zum Teamchef bestellt worden ist, versteht es, die schnell nach oben und unten ausufernde österreichische Euphorie zu zügeln. Er lehnt auch „die Verhaberung“ ab; er hat klare Vorstellungen von Arbeit und echter Freundschaft. Der Schweizer als ÖFB-Teamchef scheint die optimale Lösung zu sein. Es gibt keinerlei Sprachprobleme, auch System, Taktik, Aufstellung und Philosophie sind klar. Im österreichischen Fußball wurde damit wieder der Mut zur Offensive kultiviert, stures Verstecken und Abwarten war gestern. Koller bleibt aber auch in der Stunde seines größten Erfolgs Realist. „Freuen wir uns, aber lasst uns nicht auf Wolke sieben schweben.“ Das nächste Spiel wartet.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2015)