Filmfestspiele Cannes: Ein Bärendienst am Kino

(c) AP (LIONEL CIRONNEAU)
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Ein Jahr der Ratlosigkeit: Wirtschaftliche Krise, digitaler Umbruch und fehlende künstlerische Vision prägten das wichtigste Filmfestival.

Gut eine Stunde nach Mitternacht steht der österreichische Regisseur Michael Haneke bei der Premierenfeier zu seinem Wettbewerbsbeitrag Das weiße Band nahe dem Palais des Festivals am Strand. Der Film ist in der eben zu Ende gegangenen Abendgala beklatscht worden: Das sei zwar auch „immer eine gute Erfahrung“ meint Haneke, aber die wirklich mitreißenden Uraufführungen seien die Kontroversen – wie 1997, bei seinem Kunstschocker Funny Games, als sich nach dem Film Applaus und Buhrufe immer heftiger aufschaukelten: „Da tanzte der Bär!“

Heuer in Cannes hatte der Bär wenig zu tanzen, das stand schon vor der Preisvergabe am Sonntagabend fast. Sonst gibt es vor der Verleihung wilde Spekulationen und leidenschaftliche Debatten, 2009 blickte die internationale Filmkritik der Entscheidung über die Goldene Palme erstaunlich gelassen entgegen. Naturgemäß erleben das die Filmemacher anders: Am Sonntagmorgen komme die Nervosität, sagt Haneke, und fügt kategorisch an: „Entweder die Palme – oder nichts: Alle anderen Preise sind Nebensache.“ Aber der mangelnde Enthusiasmus der Journalisten verrät viel über ein Cannes, das zwar große Namen des Autorenkinos bot, aber nicht den großen Wurf: Echte Begeisterung blieb eine Einzelerscheinung.

Haneke bei den herausragenden Filmen

So hat Das weiße Band Donnerstagnacht als letzter Film zu einem Favoritenkreis aufgeschlossen, der eher von solider Anteilnahme zeugt. Hanekes Historienepos wurde unheimliche Atmosphäre attestiert – und akademische Konstruktion vorgeworfen. Auch andere Kritikerlieblinge zeitigten zumindest zwiespältige Reaktionen: Jacques Audiards überlanges Gefängnisdrama Un prophète, Pedro Almodóvars substanzarme Film-im-Film-Spielerei Los abrazos rotos; Jane Campions bildhübsche und blutleere Historienromanze Bright Star über den Autor John Keats; eventuell noch Marco Bellocchios opernhaftes, mitreißendes Melodrama Vincere über Benito Mussolinis erste Frau, das teilweise auch vehement abgelehnt wurde.

Wegweisend ist darunter nur Bellocchios extravagant stilisierter Frauenfilm. Zur wirtschaftlichen Krise, die sich in Cannes unübersehbar manifestierte (am riesigen Filmmarkt im Hintergrund des Festivals gab es gut ein Drittel weniger Teilnehmer), kam auch eine ästhetische und inhaltliche. Sonst werden in den Feuilletons übereifrig Themenschwerpunkte und Stilfragen von globaler Signifikanz verortet, heuer hätte man mit Fug und Recht bilanzieren können, dass sich das Weltkino einerseits weiter am Erbe des Faschismus abarbeitet (bei Haneke, Bellocchio und Quentin Tarantinos Inglourious Basterds) – andererseits aber hauptsächlich von Killern erzählt, die nebenbei am Fischmarkt arbeiten (in Johnnie Tos tollem Thriller Vengeance und Isabel Coixets mit Fassungslosigkeit aufgenommenem Schlussbeitrag A Map of the Sounds of Tokyo, der auf dem Niveau einer Parfumwerbung blieb).

Zeitgemäße Horrorkomödie

So lief der zeitgemäßeste Film des Festivals außer Konkurrenz in der Mitternachtsschiene: Spider-Man-RegisseurSam Raimi erzählte in der hinreißenden Horrorkomödie Drag Me to Hell davon, wie der Fluch einer enteigneten Hausbesitzerin eine karrierebewusste Bankerin trifft. Den mit Abstand frischesten und freiesten Film im Wettbewerb lieferte dagegen bezeichnenderweise der mit Abstand älteste Regisseur: Der 87-jährige Franzose Alain Resnais, der schon vor einem halben Jahrhundert mit Hiroshima mon amour die Filmsprache erneuerte, verblüffte mit Les herbes folles, dem heimlichen Hauptwerk des Festivals. Resnais war zweifellos der so schmerzlich vermisste Ausnahmefilm gelungen – aber aufgrund der beiläufigen, altersweisen Leichtigkeit dieser experimentellen Komödie wollten auch viele nur eine absurde Petitesse darin sehen.

Doch Les herbes folles schlägt nach unverfänglichem Beginn rasch die unglaublichsten Haken, aber selbstverständlich wie ein Achselzucken: Der Versuch, eine verlorene Brieftasche zurückzugeben, löst eine Kette von Reaktionen und Fantasien aus, in denen die unterdrückten Leidenschaften der Figuren wuchern wie das wilde Gras des Titels (immer wieder sind Aufnahmen von Beton aufsprengenden Pflanzen einmontiert).

Fusion von Innovation und Idiotie

Ebenso wuchern unerklärliche, oft abgründige Details – ist der melancholische ältere Herr, der die Brieftasche findet, ein Mörder? Zur entspannten Heiterkeit gesellt sich merkwürdige Melancholie. Erzählt wird die flockige tragikomische Mixtur mit methodisch verrückten stilistischen Gangwechseln: Wilde Kamerafahrten, unwirkliche Farben, plötzliche Traumszenen, serielle Arrangements in Bild und Ton (und Text). Als hätte Resnais alle Klassiker seiner strukturalistischen Periode der 1960er verdichtet – aber magischerweise nicht als schwere Kunstkost angerichtet, sondern als leichtes Soufflé.

Resnais schien die ganze Geschichte des Kinos zu bündeln, aber auch er konnte sich einer gegenwärtigen Tendenz nicht entziehen: Der Übergang zum Digitalen prägte das Festival (und den Filmmarkt). Les herbes folles wurde auf Film gedreht, aber digital projiziert, was sich in ungewohnten Bildtexturen niederschlägt (wie auch beim überscharfen Schwarz-Weiß von Das weiße Band). Ob er damit glücklich sei, sagte Resnais im „Presse“-Interview, wisse er nicht: Dazu müsse er erst beide Projektionsformen nebeneinander vergleichen. Aber Filmprojektion ist ein Luxus, den es nicht mehr so lange geben wird – auch nicht in Cannes.

Denn die digitale Ästhetik wird genauso in Hollywood aus Geschäftsgründen forciert wie im Weltkino für Experimente: Etwa im endlosen Todestrip Enter the Void, mit dem der Franzose Gaspar Noé zwar eine technische Tour de Force lieferte, aber mit so blamablem Inhalt, dass man förmlich spürt, wie einem beim Zusehen die Gehirnzellen absterben. Wie beim anderen programmierten Skandal des heurigen Wettbewerbs, Lars Von Triers interessanterem Kunsthorrorfilm Antichrist, sorgte die unheilige Fusion aus Innovationsdrang und Idiotie zwar für eine Saalschlacht zwischen Applaudierenden und Buhrufern – aber dem Kino erwies man damit allenfalls einen Bärendienst.

Cannes: Die ersten PREISE

Auszeichnungen für Österreich gab es schon vor der Verleihung der Hauptpreise am Sonntagabend: Die internationale Filmkritik prämierte Michael Hanekes „Das weiße Band“; in der „Quinzaine des Réalisateurs“ erhielt „La pivellina“ von Rainer Frimmel und Tizza Covi das „Europa Cinemas Label“. Der junge Kanadier Xavier Dolan bekam für „J'ai tué ma mère“ gleich drei Quinzaine-Preise. Den Festival-Zweitbewerb „Un certain regard“ gewann der Grieche Yorgos Lanthimos mit „Dogtooth“, den Jurypreis erhielt der Rumäne Corneliu Porumboiu für „Police, Adjective“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2009)

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