Eine Frage der Identität

Der öffentliche Raum als stadtplanerisches Programm braucht visionäre Protagonisten, ein klares politisches Bekenntnis und Planende, die über Fachgrenzen hinaus arbeiten. Ein Grätzlbesuch in der Seestadt Aspern in Wien.

Der sinnvoll gestaltete, ästhetisch ansprechende öffentliche Raum ist Lebensqualitätsträger, das ist schon lange bekannt. Nun scheint sich auch in unseren Breiten die entsprechende Planungskultur bei Stadtentwicklungsprojekten durchzusetzen: Der öffentliche Raum ist nicht länger das, was zwischen den Gebäuden übrig bleibt, er avanciert zum zentralen Thema, zum tragenden Gerüst der Quartiersentwicklung, dem ein ästhetisch kreativer Gestaltungsakt zugrunde liegt. Dabei gelten neue Regeln. Etwa ersetzt der Mensch nun das Auto als Bezug nehmende Größe, Straßenräume werden zu nutzungserweiterten Lebensräumen, die uns allen gleichberechtigt zur Verfügung stehen sollen, und Grenzen zu räumlichen und inhaltlichen Übergängen. Dass diese Ansätze Idealbilder zeichnen und nicht immer und überall realisierbar sind, liegt auf der Hand. Der öffentliche Raum als stadtplanerisches Programm braucht visionäre Protagonisten, ein klares politisches Bekenntnis und Planende, die es verstehen, über ihre Planungsgrenzen hinaus disziplinübergreifend, kooperativ und dialogorientiert zu arbeiten. Womit wir bei der Seestadt Aspern wären.
Die Partitur des öffentlichen Raumes (Gehl Architects 2009) – Schlüsselmoment in der stadtplanerischen Erfolgsgeschichte Seestadt Aspern – definiert Qualitäten des öffentlichen Raumes und legt sie als Planungsinstrument für den langen Prozess der Quartiersentwicklung verbindlich fest. Ein starkes fachliches Statement, das politisch mitgetragen wird. Die Umsetzung stellt die Wien 3420 Aspern Development AG sicher, Kurt Hofstetter setzt sich mit viel Engagement für den öffentlichen Freiraum ein und baut auf landschaftsarchitektonische Kompetenz: Nicht nur Grünanlagen und Freiräume, auch übergeordnete Straßenzüge, nutzungserweiterte Straßen und Wege wurden in der Seestadt bislang überwiegend von Landschaftsarchitekturbüros geplant und gestaltet. Und das mit einer erfreulich autonomen Entwurfssprache, die scheinbar beiläufig zentrale ökologische und soziokulturelle Fragen zur menschengerechten Stadt bravourös beantwortet.
2012 konnte das Büro DnD Landschaftsplanung den geladenen Wettbewerb zur Gestaltung des öffentlichen Raumes zwischen Janis-Joplin-Promenade, Maria-Tusch-Straße und Ilse-Arlt-Straße (ausgenommen ist die von 3:0 Landschaftsarchitektur geplante Sonnenallee) für sich entscheiden. Die Development AG hat gut daran getan, den gesamten Bereich in eine (landschaftsplanende) Hand zu legen, denn die vielfältige Formensprache und Materialienwahl der umliegenden wohnanlagenbezogenen Freiräume verlangen nach einer verbindenden ästhetischen Einheit. DnD hat diesen Bedarf erkannt und ein starkes, klar lesbares Freiraumgerüst geschaffen, mit dem Hermine-Dasovsky-Platz als Herzstück der Freiraumsequenz. Eine grafische, linear fließende Formgebung definiert den Raum. Entlang der Wegeführungen erfüllt die Linearität den Anspruch der qualitätvollen fuß- und radläufigen Erschließung, an den räumlichen Aufweitungen bildet sie den Rahmen, der die Platzstrukturen fasst. Aufenthaltsnutzungen werden geschickt in die Fließformen integriert. Unterstützt wird das offensichtlich ästhetisch-funktionale Anliegen des Entwurfs durch eine unmissverständliche Materialwahl. Weiße Streifen im Belag verweben glatte, herrlich „berollbare“ Confalt-Oberflächen mit rauem Kleinsteinpflaster. Das kleinstrukturierte Pflaster ist Recyclingmaterial aus Wiener Beständen und vermittelt Vertrautheit – ein ersehntes Gefühl in einem artifiziell anmutenden Stadtteil ohne historisch gewachsene Bestandsstruktur.
Wo sinnvoll oder funktional erforderlich, wurden Gebäudeteile und wohnanlagenbezogene Freiräume gestalterisch integriert oder wurde Distanz zu den Gebäuden geschaffen. Der denkbar komplexe Abstimmungsprozess zeugt von mediatorischem Geschick der Verantwortlichen. Auf üppige Landschaftselemente wurde zugunsten der Großzügigkeit der Straßen-Platz-Sequenz verzichtet. Stattdessen wurde den Baumpflanzungen beziehungsweise den Baumscheiben und Baumschutzgittern in Form des Corporate Designs der Seestadt besondere gestalterische Aufmerksamkeit geschenkt. Unterschiedliche Motive auf Baumscheiben aus Cortenstahl stellen Bezüge zum Grätzl her – auch so kann Identität gestiftet werden.
Verlässt man diese Freiraumsequenz Richtung Stadthaus, öffnet sich die Kubatur zum Hannah-Arendt-Platz. Der Platz hat durch seine Lage an Einkaufsmeile, Stadthaus und Bildungscampus eine zentrale Bedeutung für das Quartier. Räumlich definiert er sich über den äußeren, städtischen Ring des zentralen Hannah-Arendt-Parks (ARGE YEWO Landscapes & Mettler Landschaftsarchitektur), über den Vorbereich des Stadthauses (bauplatzzuständig: zwoPK Landschaftsarchitektur) und über einen Abschnitt der Maria-Tusch-Straße (3:0 Landschaftsarchitektur). Die verteilten Zuständigkeiten lassen es erahnen: Zur Schaffung einer gestalterischen Einheit hat es auch hier viel Abstimmung aller Beteiligten erfordert.
Das Siegerprojekt des geladenen Wettbewerbs zur Gestaltung des Hannah-Arendt-Parks und -Platzes sieht eine formale und funktionale Einheit von Platz- und Grünanlage vor. Der Wechsel der Freiraumtypologie wird durch die asphaltierte Oberfläche angedeutet; eine am Parkrand verlaufende, mehrmals durchbrochene Sitzkante aus Stampfbeton vollzieht die Grenze, die eigentlich keine ist. Sie wird als verbindendes Element wahrgenommen, eine belebte Kante mit vielen Funktionsmöglichkeiten in beide Richtungen. Der hainartige, hoffentlich bald beschattete Abschnitt zwischen Park und Straße wurde bewusst funktionsoffen und flexibel konzipiert. Die gestalterische Zurückhaltung lässt Raum für vielerlei, etwa für bereits stattfindende Veranstaltungen und Märkte. Kinder (und Eltern) kommen aufgrund des angrenzenden Campus im südlichen Bereich des Stadtringes auf ihre Kosten.
Der Hannah-Arendt-Platz strahlt Freundlichkeit aus, er wurde sehr dezent mit viel Einfühlungsvermögen für Nutzerbedürfnisse geplant. In den heißen Augusttagen bot er bereits eine wunderbare Plattform für bewegtes urbanes Leben. Im Übrigen realisiert YEWO derzeit das nächste Projekt in dieser Freiraumabfolge, den wenige Schritte entfernten Maria-Trapp-Platz. Ein vielversprechendes, junges Büro – man darf gespannt sein! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2015)

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