Braucht ein Kind vor der Schule schon ein Handy?

Psychologin Brigitte Sindelar im Interview über altersgerechten Umgang mit Handy, Tablet & Co.

Tablet, Handy, Fernseher und Kinder – ist Bildschirm gleich Bildschirm?

Brigitte Sindelar: Es ist nicht gleich. Und Kinder sind nicht gleich. Wir müssen berücksichtigen, dass Kinder in unterschiedlichem Alter auch unterschiedliche kognitive Fähigkeiten und Voraussetzungen haben.

Also je nach Alter haben die Geräte unterschiedliche Wirkungen?

Ja, schon allein von den Blickbewegungen. Wenn ich auf ein Tablet schaue, habe ich eine andere Blickbewegung zu vollführen, als bei einem Handydisplay oder einem Bildschirm. Wenn ich als Schulanfängerkind einen großen Bildschirm vor mir habe, erscheint mir das als eine wesentlich größere Welt, die mich auch viel mehr überfluten kann als bei einem Handydisplay.

Was stellt das mit mir als Kind an?

Wenn ich im Alter von ca. 5 Jahren bin, ist es meinem Entwicklungsstand entsprechend, dass die Grenze zwischen Realität und Fantasie sehr durchlässig ist. Älteren Kindern fällt es leichter, aus dieser virtuellen Realität wieder herauszutreten.

Je kleiner, desto ungefährlicher?

Je kleiner, desto anders. Sich etwas vorstellen zu können, ohne dass es real da ist, ist eine Fähigkeit, die wir immer brauchen. Aber zwischen vier und sechs kann ich die Realität und die Fantasie nur mangelhaft unterscheiden.

Ein Fernseher oder Computerspiele haben also auch eine sinnvolle Funktion.

Durchaus. Die Wertung zwischen gut und böse hat ja nichts mit dem Medium zu tun, sondern wie wir es verwenden. Heute jammern Eltern, dass ihre Kinder keine Bücher mehr lesen. Ich habe als Kind Schwierigkeiten gehabt, weil ich permanent gelesen habe. Mir wurde immer vorgeworfen, du versinkst in einem Buch – was auch richtig war. Man kann alle Medien sinnvoll nutzen, wenn man weiß, was es mit einem Kind macht und was es einem Kind bringen kann.

Die Kinder gar nicht erst damit zu konfrontieren, ist also der falsche Weg?

Bestimmt. Denn das hält das Kind von etwas fern, womit es später einmal umgehen muss.

Ist es besser, aktiv am Computer zu spielen als passiv zu fernsehen?

Ich höre immer von Eltern das große Gejammer, dass sich Kinder stundenlang in einem virtuellen Spiel befinden, sie kaum wegzubringen sind. Das sind Qualitäten, die auf der anderen Seite den Jugendlichen immer vorgeworfen werden, dass sie sie nicht hätten. Etwa, dass sie sich auf nichts konzentrieren können – genau das tun sie da aber. Da sollten wir nachdenken, wieso sie das in der realen Welt nicht können, aber bei bestimmten Spielen sehr wohl.

Und warum ist das so?

Weil sie es grundsätzlich können. Und tun wollen. Aber wenn wir ihnen in der realen Welt nicht die Herausforderungen bieten, die sie brauchen, um sich weiterentwickeln zu wollen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie das woanders suchen.

Kann einem Dreijährigen ein altersadäquates Spiel am Handy auch schaden?

Ja, aber nicht das Spiel an sich. Sondern wenn ihm andere altersadäquate Spiele nicht oder in weit geringerem Maß angeboten werden. Ein dreijähriges Kind muss sich bewegen können, braucht eine Ganzkörpererfahrung. Es muss die Gelegenheit haben, Dinge zu greifen, zu begreifen.

Manchmal werden Kinder ja mit Fernseher oder Tablet ruhiggestellt.

Da möchte ich die Eltern auch nicht verteufeln. Es gibt Situationen, da ist man als Mutter in Not. Problematisch ist es erst, wenn es von der Notlösung zur Lösung wird.

Man trifft sich ja jetzt auch häufiger in der virtuellen Welt. Ist das gleichwertig mit einem realen Treffen?

Ich würde nicht sagen, dass es vergleichbar ist. Die 400 Freunde im Social Media sind nur Kontakte. Wenn ich aber mit einem Freund gemeinsam Zeit verbringe, erweitert die virtuelle Welt die Möglichkeiten und kann Beschränkungen von Raum und Zeit aufheben.

Inwieweit ist Reizüberflutung durch Bildschirme ein Problem für Kinder?

Sie müssen eine wesentlich größere Anstrengung leisten, um sich abzugrenzen und sich nicht ablenken zu lassen. Da brauchen sie Hilfe von Erwachsenen. Da kann es schon Zeiten geben, in denen es für das Kind wichtig ist, die Zeit zu begrenzen.

Es ist nur manchmal schwierig, wenn Eltern das selbst nicht schaffen.

Wenn Eltern das Handy beim Essen auch am Tisch liegen haben oder nebenbei der Fernseher läuft, Kinder imitieren alles – nicht nur, was wir wollen, das sie imitieren.

Warum hat ein Bildschirm überhaupt so eine große Anziehungskraft?

Weil er Reize in einem begrenzten Feld liefert. Innerhalb dieses Feldes blitzt ständig etwas auf. Bei einem Bilderbuch aus den 50er-Jahren musste man noch Details suchen, da war irgendetwas versteckt. Nehmen wir heute die Simpsons, da gibt es ein knallig gelbes Gesicht, das muss man nicht suchen. Das Kind wird dauernd angesprochen mit einem neuen Reiz – aber hat gar nicht die Zeit, diesen Reiz zu verarbeiten.

Gibt es eine Richtlinie, in welchem Alter welches Gerät sinnvoll ist?

Eine grobe Orientierung: Vor dem Schuleintritt braucht ein Kind weder Handy noch eigenen Computer. Ab der dritten Klasse Volksschule kann ein Kind durchaus ein Handy haben, mit dem man telefonieren kann – aber mit eingeschränkten Funktionen.

Da wird es doch sozialen Druck geben.

Es ist wichtig, mit dem Kind zu sprechen. Man darf dabei nicht erwarten, dass das Kind vernünftig ist. Aber man muss dem Kind sagen, ich bin für dich verantwortlich, und ich muss dich vor manchen Dingen beschützen. Das fällt vielen Eltern schwer, weil ihnen das Kind leid tut.

Und bei Tablets und Computern?

Ist es ähnlich. Was ich einem Kind schon im späten Volksschulalter geben würde, sind Computer mit einer Funktion, wo man ausprobieren und altersgerechte Spiele spielen kann. Damit kann man Kinder schon auf Medienkompetenz vorbereiten.

Zur Person

Brigitte Sindelar(geb. 1952) ist Vizerektorin für Forschung und Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Sie promovierte 1976 und wurde 2012 habilitiert. Privat

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2015)

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