Was ist los mit Europa?

Wer zu uns kommt, muss Eintritt zahlen, muss überfüllte Boote besteigen, über Stacheldrahtzäune klettern, Züge stürmen – und vor allem dankbar sein. Vielleicht wird er dann mit einem humanitären Bleiberecht „belohnt“, während wir selbst von alledem sogar noch profitieren. Die sogenannte Flüchtlingsflut:Anmerkungen eines Emigranten.

Ich hatte Glück. Zwar war das Land, in dem ich geboren wurde, eine Diktatur, und ich gehörte einer diskriminierten Minderheit an, mein Vater wurde vom KGB verhört, doch wir flüchteten nicht, wir durften legal ausreisen. Dies musste rasch erfolgen, weil das Ausreisevisum nur kurze Zeit gültig war. Meine Eltern waren Schikanen ausgesetzt, ihre Familienangehörigen, die in der Sowjetunion geblieben waren, durften sie jahrzehntelang nicht sehen. Ich war fünf Jahre alt und erfuhr erst im Transitlager Schönau bei Wien, dass wir nie mehr nach Hause zurückkehren würden. Doch war mein Leben weder damals noch in den zehn folgenden Jahren der Migration mitZwischenstationen in verschiedenen Ländernjemals bedroht, ich hatte immer ein Dach über dem Kopf und habe nie gehungert. Zwar musste ich im Alter von 15 Jahren eine kurze Zeit in Schubhaft in einer Zelle verbringen, doch gab es dort immerhin eine Toilette, ein Waschbecken und ein Bett.

Als junger Mensch hatte ich wahrscheinlich weniger Illusionen als andere. Ich wusste, dass die traumatischen Erfahrungen und Katastrophen, vor denen man sich fürchtet, stets von der Realität übertroffen werden können. Dennoch hätten meine schlimmsten Fantasien nicht dafür gereicht, um mir vorzustellen, dass einige Jahrzehnte später in einem Land wie Österreich, das ich nun als mein eigenes betrachte, schwangere Frauen und Kleinkinder im Freien werden übernachten müssen, dass Menschen, die aus Not und Verzweiflung zu uns kommen, zeitweise unter Bedingungen leben, die schlimmer sind als jene, die in Flüchtlingslagern in Kenia oder im Libanon anzutreffen sind. Meine Traumata waren vergleichsweise„klein“, und doch wirken sie bis heute nach, und meine Erinnerungen lassen mich nicht los. Wie wird es erst den Menschen, vor allem den Kindern, ergehen, die einen Krieg erleben mussten und im sicheren Europa von Skinheads attackiert, von Anhängern von Jobbik oder der FPÖ beschimpft und von den politisch Verantwortlichen im Stich gelassen wurden?

Was ist los mit Europa?

Im Mittelmeer sind seit Jahresbeginn etwa 2500 Menschen auf der Flucht ertrunken. Jeden Tag werden es mehr. Die ungarischen Behörden behandeln Flüchtlinge mit einer Unmenschlichkeit, die man in einem europäischen Land nicht hätte erwarten können: Stacheldrahtzäune, Polizei und Militär an der Grenze, Misshandlungen, Strafandrohungen für illegale Grenzübertritte, Verhaftungen. Das Land soll „flüchtlingsfrei“ werden. Als 1956 und in den Jahren danach Hunderttausende Ungarn ihrem Land den Rücken kehrten, erhielten sie in Österreich und anderswo Asyl. In Tschechien kommen viele Flüchtlinge ins Gefängnis. Bevor sie weiterreisen dürfen, wird ihnen das wenige Geld, das sie noch haben, geraubt, indem man sie für den erzwungenen Gefängnisaufenthalt zahlen lässt. Es ist bestimmt kein Zufall, dass gerade die Nachkommen jener, die 1956 oder 1968 nicht geflüchtet sind, den Flüchtlingen von heute mit einer solchen Wutund Abwehr begegnen.

Verpflichtung, kein Gnadenakt

In Ost- und Südosteuropa sind Zivilgesellschaften erst im Entstehen, Minderheiten – vor allem Roma – werden diskriminiert oder verfolgt, demokratische Mindeststandards nicht immer eingehalten. Die eigene „realsozialistische“ Vergangenheit ist kaum aufgearbeitet, die faschistische oft genauso wenig, die alten Eliten sind weiter an der Macht,und die Mehrheit der Bevölkerung ist für rechtsradikales Gedankengut offen. Demnach überrascht es nicht, dass in Ungarn, der Slowakei oder Tschechien, aber auch in Polen oder Lettland Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien oder gar Somalia nicht willkommen sind und Vorstellungen, dass Solidarität und Hilfsbereitschaft eine moralische Verpflichtung und kein Gnadenakt sind, keine Selbstverständlichkeit darstellen. Wenn die meisten Flüchtlinge nicht aus Asien oder Afrika, sondern aus der Ukraine oder aus Weißrussland kämen, wäre die Hilfsbereitschaft wahrscheinlich größer.

Doch Österreich ist nicht Osteuropa. Seit 70 Jahren ist unser Land eine funktionierende Demokratie. Wir haben unsere Vergangenheit brav aufgearbeitet (oder etwa nicht?), wir sind stolz auf unser sauberes Wasser und unsere niedrige Kriminalitätsrate und spenden fleißig für „Nachbar in Not“. Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Etwa 85.000 Flüchtlinge werden dieses Jahr, laut Prognosen, in Österreich bleiben, in Deutschland 850.000, wahrscheinlich noch etwas mehr – das ist eine große Zahl, doch im Falle beider Länder nur etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei einer von Anfang an gut koordinierten Aufnahme, Unterbringung, Betreuung und Versorgung der Menschen in Not, von denen die meisten aus Kriegsgebieten wie Syrien, Irak oder Afghanistan oder aus „Failed States“ wie Somalia zu uns kommen, hätte kaum jemand das „Problem“ als „Völkerwanderung“ oder gar als„Flüchtlingsflut“ wahrgenommen. Es wäre, was Europa betrifft, weder eine Krise noch eine Katastrophe, zumal es schon vor vielen Monaten vorhersehbar war, dass eine so große Zahl von Menschen als Schutzsuchende zu uns kommen wird.

Wie also ist zu erklären, was in den vergangenen Monaten in Europa geschehen ist? Warum war erst in den vergangenen Wochen in wenigen Ländern, in Deutschland und Österreich nämlich, eine Änderung der Politik gegenüber Flüchtlingen erkennbar, während die EU in ihrer Gesamtheit völlig versagt? Warum hat man nicht schon vor einem halben Jahr oder vor zwei Monaten rasch und unbürokratisch agiert und „Notlösungen“ gefunden? Waren Flüchtlinge damals etwa nicht in Not? Anfang September betonten viele Österreicher, wie stolz sie auf ihr Land seien, wie vorbildhaft man sich Flüchtlingen gegenüber (von denen fast alle nach Deutschland weitergereist sind) verhalte. Politiker ließen sich als Wohltäter feiern, wenn sie bewusst ein EU-Gesetz (Dublin III) brachen, von dem sie aber betonten, es sei weiterhin in Kraft. Und was nun? Was passiert, wenn Deutschland, Österreich und andere Länder auf Dauer Grenzkontrollen durchführen oder sich wie Ungarn abschotten und eine gemeinsame europäische Asylpolitik weiterhin nicht in Sicht ist? Wird man auf die Integration jener, die es in einem bestimmten historischen Zeitfenster zu uns geschafft haben, stolz sein, während man andere wie früher am Grenzübertritt hindert, abschiebt oder in die Illegalität zwingt?

Wenn die Taktik der politisch Verantwortlichen darin bestand, Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Europa zu kommen, so ist dies gründlich misslungen. Wenn es darum ging, den Ängsten, der Fremdenfeindlichkeit und dem Rassismus vieler Einheimischer Tribut zuzollen, dann hat sich dies ebenfalls als wenig sinnvoll erwiesen. Die Hilfsbereitschaft ist außergewöhnlich, die Zivilgesellschaft hat sich organisiert, die Welle der Solidarität ist größer, als man erwartet hat. Die Zahl jener, die an den Grenzen Mauern bauen, die Flüchtlinge internieren wollen, in sozialen Netzwerken zu Mord und Vertreibung aufrufen und vor Flüchtlingsheimen demonstrieren, wird nicht geringer, doch handelt es sich dabei allen Unkenrufen zum Trotz in den meisten Staaten Westeuropas bei Weitem nicht um die Mehrheit der Bevölkerung. Mehr Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan auf unseren Straßen werden Strache nicht zum Bundeskanzler machen.

Die eigentlichen Gründe für die Katastrophe sind nicht, wie von vielen behauptet, die Herzlosigkeit oder gar Bösartigkeit bestimmter Spitzenpolitiker, der Egoismus einzelner Landeshauptleute, der Unwille mancher Bürgermeister, Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, die Unfähigkeit der EU, eine gemeinschaftliche Lösung für das Problem zu finden, oder der Zynismus, mit dem einige Maßnahmen umgesetzt oder, besser gesagt, nicht umgesetzt wurden. Die Ursachen reichen viel tiefer und haben damit zu tun, was man etwas salopp mit dem Wort „Zeitgeist“ umschreibt. Manchmal prägt nicht dasSein das Bewusstsein, sondern umgekehrt. Als Österreich im vorigen Jahrhundert Flüchtlinge aus dem Sudetenland, aus Ungarn oder der Tschechoslowakei aufnahm, war unser Land viel ärmer als heute. Die Tatsache, dass es damals zu keiner „Katastrophe“ kam, ist nicht primär darauf zurückzuführen, dass die einheimische Bevölkerung um so viel hilfsbereiter, die politisch Verantwortlichen kompetenter waren als heute, sondern auf das damals vorherrschende Gefühl, dass man gesellschaftlich und ökonomisch einen Weg des Fortschritts eingeschlagen habe, dass die eigenen Kinder es einmal besser haben würden als man selbst.

Wer glaubt das heute noch? In Zeiten der Krise und der wachsenden Ungleichheit wird die Zukunft bestenfalls als ungewiss und bedrohlich, im schlimmsten Fall als unvermeidlicher Niedergang gesehen. Wenn die eigene Gegenwart und Zukunft als prekär wahrgenommen werden, erscheint jede außergewöhnliche Situation als Bedrohung und jede echte Herausforderung als Katastrophe.

Die Angst und die Abwehr

Zur Katastrophe kam es, weil Politiker, ihre Berater und sogenannte Analytiker glaubten, dass die „Flüchtlingsflut“ eine Katastrophe für das eigene Land bedeutete: weil dies wirtschaftlich und sozial nicht „verkraftbar“ wäre, weil die Bevölkerung verunsichert werden könnte, weil der kulturelle Hintergrund der Flüchtlinge für die europäischen Gesellschaften noch fremder sei als jener der Zugewanderten von gestern oder vorgestern. Weil. Weil nicht der böse Wille, sondern die Angst und die Abwehr größer waren als der Idealismus oder der Mut zu staatsmännischem statt zu gewohntem politischen Handeln, welches stets auf einem Ausgleich verschiedener Interessen beruht.

Unsere Politiker erschufen eine Krise, die nicht nur eine humanitäre Katastrophe darstellt, sondern auch als Metapher unseres Gesellschaftssystems verstanden werden kann: Wer zu uns kommt, muss Eintritt zahlen, weil es im Leben nichts umsonst gibt, muss überfüllte Boote besteigen, über Stacheldrahtzäune klettern, Züge stürmen, Schlepper bezahlen, im Freien übernachten und dankbar sein. Wer das überlebt, wer sich „bewährt“, wird von uns vielleicht mit einem humanitären Bleiberecht „belohnt“, während wir selbst – eine paradoxe Infamie – von alledem sogar profitieren: durch eine Stärkung der Zivilgesellschaft zum Beispiel oder durch jene Steigerung des Umsatzes und des Konsums (und somit der Wirtschaftsleistung), welche die vielen Lunch- und Hygienepakete für Flüchtlinge bedeuten, die von vielen Österreichern und anderen Europäern aus eigener Tasche bezahlt, auf eigene Kosten transportiert und verteilt werden.

„Im Moment ist diese Welt nur schwer zu ertragen“, schrieb mir vor Kurzem eine Bekannte. Doch die Welt war vor zehn, 20, 30 Jahren nicht besser. Der Bürgerkrieg im Kongo, dem von 1998 bis 2003 mehr als drei Millionen Menschen zum Opfer fielen, hat hier in Europa kaum jemanden interessiert, weil er uns nicht betraf. Nun, da „die Welt“ in unseren Alltag eingreift, diskutieren wir über eine größere humanitäre Hilfe in Krisenregionen und darüber, wie man bestimmte Kriege beenden und deren Ursachen beseitigen könnte. Vielleicht sollten wir außerdem – wieder einmal – etwas intensiver darüber nachdenken, wer wir selber sind. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2015)

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