Flucht aus der Türkei: Zu Fuß statt im Schlauchboot

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Die vielen Unglücksfälle auf dem Meer haben Flüchtlinge dazu bewogen, auf dem Landweg nach Europa zu fliehen. Von Edirne aus geht es nach Griechenland oder Bulgarien.

Wien/Istanbul. Für Tagesausflügler ist es die perfekte Geografie: Gleich mehrere griechische Inseln sind an der türkischen Ägäis-Küste in Seh- und Reichweite. In diesem Sommer waren es aber auch tausende Flüchtlinge, die vor allem nachts und in unsicheren Schlauchbooten von der Türkei aus nach Griechenland gekommen sind. Ein gefährliches Unterfangen, das viele Opfer gefordert hat – gezeigt hat das nicht zuletzt das traurige Bild des Flüchtlingsbuben Aylan Kurdi, dessen Leiche an die türkische Küste gespült wurde. Im Winter scheint die Überfahrt noch riskanter, und angesichts der etlichen Unglücksfälle wählen viele Flüchtlinge wieder den Landweg, um ihren Traum von Europa verwirklichen zu können.

Aus Ägäis-Gegenden wie Izmir und Bodrum heißt es, dass sich die Anzahl der Flüchtlinge verringert habe, zumal die Behörden viele eingesammelt und in die Camps gebracht haben. Für diejenigen, die trotz aller Nachrichten aus dem Balkan den langen Weg auf sich nehmen wollen, ist der Grenzübergang Kapıkule nördlich von Edirne – im Dreiländereck Türkei, Griechenland und Bulgarien – das Ziel. Weil viele Busbetreiber den Flüchtlingen keine Tickets verkaufen, und weil sich viele die Fahrt auch nicht leisten können, haben vergangene Woche tausende Menschen – die meisten davon Syrer – begonnen, den 240 Kilometer langen Weg von Istanbul nach Edirne zu Fuß zurückzulegen. Zeitweise war die Autobahn blockiert, entlang der Straße waren temporäre Schlafstätten sichtbar. Die meisten waren dürftig gekleidet, die Versorgungslage an der Autobahn denkbar schlecht.

Zaun in Bulgarien

Die türkischen Behörden konnten einen Großteil der Flüchtlinge abfangen und in Camps bringen. Ein Teil wurde in einer Arena untergebracht, wo normalerweise der türkische Nationalsport – der Öl-Ringkampf – aufgeführt wird. Auf den Straßen kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und Polizei.

Edirne ist zwischenzeitlich zu einem Hotspot geworden. Von hier aus wird der Grenzübergang entweder nach Griechenland oder nach Bulgarien vorbereitet. Zwischen Edirne und Kapıkule harren derzeit tausende Flüchtlinge aus und warten auf eine Möglichkeit, ihren Weg fortsetzen zu können. Bereits vor zwei Jahren hat ein Flüchtlingsstrom Bulgarien dazu bewogen, einen Grenzzaun aufzustellen, der allerdings schon recht porös ist. Während die bulgarisch-türkische Grenze strenger bewacht wurde, sind die Flüchtlinge über Griechenland und Mazedonien nach Bulgarien gekommen. Anschließend ließ Sofia die Beamten dort aufstellen, nun werden sie wieder an die türkische Grenze zurückbeordert. Auch eine Verlängerung des Grenzzaunes ist in Planung.

Ähnlich wie in Edirne warten auch in Istanbul tausende Flüchtlinge auf eine mögliche Weiterfahrt. Rund um den Busbahnhof haben sie kleine Camping-Zelte aufgestellt, freiwillige Helfer bringen Wasser und Lebensmittel. Wie die Lage im Winter sein wird, mag kaum jemand vorhersagen; manche hoffen, dass die Busfirmen doch noch günstige Tickets anbieten. Diese wiederum halten sich aus Angst, dass ihnen die Kunden wegbleiben, noch bedeckt.

Rund zwei Millionen Flüchtlinge leben derzeit in der Türkei – das ist zumindest die offizielle Zahl. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Nun wollen EU-Politiker Ankara finanziell unter die Arme greifen, damit der Flüchtlingsstrom nach Europa abreißt. Erst am Wochenende war Außenminister Sebastian Kurz zu Besuch in Ankara, wie auch sein deutscher Kollege Frank-Walter Steinmeier. Die Argumentation für die europäische Hilfe lautet: Während die Grundversorgung eines Asylwerbers in Österreich 8000 Euro im Jahr beträgt, sind es in der Türkei 275 Euro pro Jahr. Das heißt, dass Österreich mit 420 Millionen Euro die Grundversorgung von drei Viertel der in der Türkei registrierten Flüchtlinge versorgen könnte.

AUF EINEN BLICK

Flüchtlinge. Nach den vielen Unglücksfällen auf dem Meer will ein Großteil der Flüchtlinge auf dem Landweg nach Europa gelangen. Der Weg führt sie über Edirne im Dreiländereck Türkei-Griechenland-Bulgarien in Richtung EU. Zuletzt kam es auf den Straßen zwischen Istanbul und Edirne zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2015)

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