EU-Deal: Aufteilung und Eindämmung

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EU-Innenminister dürften heute über Verteilung von 120.000 Asylwerbern entscheiden. Bei EU-Gipfel wird über Maßnahmen an Grenzen und in Herkunftsländern beraten.

Wien/Brüssel. Es sollen zwei klare Signal sein, die beim Treffen der EU-Innenminister am heutigen Dienstag und beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs tags darauf ausgesendet werden: Zum einen ist die aktuelle Flüchtlingskrise nur mit Solidarität aller Mitgliedstaaten zu bewältigen. Zum anderen muss der Strom durch Maßnahmen an den Außengrenzen und durch massive Hilfe in den Nachbarländern des Irak und Syriens rasch eingedämmt werden.

Bei ihrem Treffen werden sich die Innenminister aller Voraussicht nach über die Verteilung von 120.000 bereits in der Union gestrandeten Flüchtlingen einigen. Allen voran machen Deutschland, aber auch Österreich und Italien Druck. Eine verpflichtende Quote für eine Aufteilung aller künftig ankommenden Flüchtlinge, wie sie der Plan von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorgesehen hatte, dürfte vorerst aber nicht realisiert werden. Das liegt an der ablehnenden Haltung mehrerer osteuropäischer Mitgliedstaaten: Bei einem Treffen der Visegrád-Länder Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn am gestrigen Montag verfestigte sich deren Blockadehaltung gegenüber einem fixen Verteilungsschlüssel in Europa. Der tschechische Regierungschef, Bohuslav Sobotka, kritisierte, der Quotenvorschlag der Kommission sei „mit der heißen Nadel gestrickt und nicht durchdacht“. Auch ein Mechanismus, der den Verbleib der Flüchtlinge in den ihnen zugeteilten Ländern sicherstellt, fehle völlig. Polens Außenminister, Grzegorz Schetyna, bekräftigte, es dürfe bei der Aufnahme keinen „Automatismus“ geben. Allerdings hatte Warschau in der Quotenfrage zuletzt Einlenken signalisiert: In einem Gastbeitrag für die Zeitung „Gazeta Wyborcza“ schrieb Schetyna, sein Land sei „in der Lage, freiwillig mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als es die von der Kommission vorgeschlagenen Quoten vorsehen“.

Mögliche Kampfabstimmung

Sollte es nicht gelingen, einen Konsensbeschluss unter allen Innenministern für die Verteilung von 120.000 Menschen zu erzielen – einen formalen Beschluss über die Umsiedlung weiterer 40.000 Personen gab es bereits in der vergangenen Woche –, könnte auch eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung fallen: Sie muss von mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, mitgetragen werden. Deutschlands Bundeskanzlerin, Angela Merkel, warnte allerdings vor einer solchen Kampfabstimmung. Die EU-Regierungen müssten es schaffen, in einer so wichtigen Frage im Konsens zu entscheiden.

In jedem Fall soll die Umverteilung für Griechenland und Italien eine deutliche Entlastung bringen: 66.000 Personen werden von dort umgesiedelt. Doch auch andere stark betroffene Länder wie Kroatien oder Slowenien haben die Möglichkeit, um Hilfe zu bitten – bleibt doch noch ein Kontingent von 54.000 Menschen, die ursprünglich aus Ungarn umverteilt werden sollten. Budapest lehnt jegliche Umsiedlung ab. Es hat freilich die meisten Flüchtlinge sowieso weitergeschickt.

Um den Flüchtlingsstrom einzudämmen, werden die Staats- und Regierungschefs in Brüssel über neue Maßnahmen an den Außengrenzen beraten. Ziel ist ein Signal an Schlepper und Flüchtlinge, dass der Einreise auf illegalen Wegen ein Riegel vorgeschoben wird. Laut EU-Ratspräsident Donald Tusk sei die Union derzeit nicht in der Lage, ihre gemeinsamen Außengrenzen zu sichern. „Wir haben an dieser Front versagt.“ Der Chef der EU-Grenzschutzbehörde Frontex, Fabrice Leggeri, spielt den Ball den Mitgliedstaaten zu. Er forderte in Interviews mit der „Welt“ und „El País“ mehr Unterstützung beim gemeinsamen Grenzschutz. Mehr Personal und technische Ressourcen könnten seiner Ansicht nach dazu beitragen, an der Außengrenze eine konsequente Registrierung aller Asylwerber vorzunehmen. Leggeri plant ein einheitliches Grenzmanagement, das auch eine Selektion vornehmen könnte, wer Chancen auf Asyl hat und wer nicht.

Gleichzeitig wird der Kampf gegen Schlepper intensiviert. Seit Jänner kamen über 360.000 Menschen mit Schlepperbooten über das Mittelmeer in die EU. Diese gefährliche Route, die in diesem Jahr bereits 2850 Flüchtlinge das Leben gekostet hat, soll völlig eingedämmt werden. Allein Deutschland wird 950 Soldaten entsenden. Ab Oktober sollen Schlepperboote in internationalen Gewässern aufgebracht und nach Rettung der Passagiere versenkt werden. Der EUNavfor-Med-Einsatz zielt vor allem auf Schlepper aus Nordafrika ab, die Menschen nach Süditalien bringen. Offen ist noch, wie auch der Seeweg zwischen der Türkei und Griechenland besser kontrolliert werden kann.

Geld für Welternährungsprogramm

Mit diplomatischen Offensiven und zusätzlichen Finanzmitteln soll zudem versucht werden, die Situation in den Nachbarländern des Irak und Syriens so weit zu stabilisieren, dass Flüchtlinge nicht mehr in Massen nach Europa aufbrechen. Ratspräsident Tusk hat die Teilnehmer des EU-Sondergipfels zu umgehenden Zahlungen an das WFP (Welternährungsprogramm) aufgerufen. In seinem Brief an die Staats- und Regierungschefs erinnerte er daran, dass das WFP mangels Geld die Versorgung der Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln bereits deutlich habe kürzen müssen.

AUF EINEN BLICK

In dieser Woche finden in der EU gleich zwei Treffen auf Spitzenebene zur Flüchtlingswelle statt: Am heutigen Dienstag entscheiden die Innenminister aller Voraussicht nach über die Umverteilung von 120.000 vorwiegend in Italien und Griechenland gestrandeten Flüchtlingen auf die restlichen Mitgliedstaaten.

Tags darauf findet ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs statt, wo in erster Linie über Hotspots zur Registrierung der Flüchtlinge an den Außengrenzen, zusätzliche Hilfe für Transitländer und über einen intensivierten Kampf gegen Schlepper beraten werden soll.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2015)

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